Sehr geehrte Damen und Herren, wir freuen uns, Ihnen einen Gastbeitrag Wolfgang Frechs vorstellen zu können. Der Autor rezensiert das Buch von Andreas Eichler »Sprache und Eigensinn. Von den Minnesängern bis Herder.«
Johannes Eichenthal
Es macht Vergnügen, dieses Buch in die Hand zu nehmen, darin zu blättern und sich an der grafischen Gestaltung zu erfreuen. Die liebevolle und durchdachte Gestaltung, für die Birgit Eichler zuständig war, zeichnet das Buch aus. Dazu gehören das ungewöhnliche Vorsatz-Papier, natürlich die Fotos und das markante Buchformat. Aber auch scheinbar nebensächliches wie der Randstreifen mit den Namen der beschriebenen Personen ist bis ins Detail durchdacht und wohlgestaltet.
Eine unterhaltsame Lektüre, Unterhaltungs-Literatur, bietet das Buch nicht. Das lässt schon der Titel »Sprache und Eigensinn« erahnen. Für alle im Buch beschriebenen Persönlichkeiten war Sprache ein wichtiges Werkzeug, um ihre Ideen, ihre Deutung der Welt und ihre Anliegen zu vermitteln. Andreas Eichler spricht von »Literaten«, auch wenn ihr Hauptberuf und ihre eigentliche Berufung vielfältiger waren. Aber es soll bei diesem Begriff bleiben.
»Eigensinn« haben, also einen eigenen Sinn haben, auf eigenen Gedanken beharren, dabei vielleicht auch irren – das sind Voraussetzungen für die »Schöpfung« von neuen Ideen, von Kreativität würden manche heute formulieren. Gewiss nicht durch Ignorieren der Vorangegangenen, aber mit dem Mut, eigene, unbekannte und schon dadurch manchmal bedrohte, jedenfalls gefährdete Wege zu gehen.
Andreas Eichler beschreibt in den 20 Beiträgen des Buches 22 Männer und Frauen, die zumindest einen Teil ihres Lebens im mitteldeutschen Raum verbracht haben. Einige sind hier geboren und später in die Ferne gezogen (wie Paul Fleming), andere haben Mitteldeutschland im Laufe ihres Lebens höchstens zu Reisen verlassen (wie Martin Luther und Johann Sebastian Bach).
Als Einstieg der einzelnen Beiträge beschreibt der Autor auf wenigen Seiten das Leben der Literaten. Vertiefend sind die wichtigsten Werkausgaben aufgelistet. Zu jedem Beitrag gehört der Plan eines Ortes, der eng mit dem Leben und Wirken des jeweiligen Literaten verbunden ist. Dafür wurde nicht irgendein Stadtplan herausgekramt, sondern sie wurden extra für dieses Buch gezeichnet. Dadurch haben sie eine einheitliche Gestaltung und heben Gebäude hervor, die mit der jeweiligen Person in Verbindung stehen.
Dann geht Andreas Eichler auf eines oder manchmal mehrere Werke der Literaten näher ein. Dazu bringt er längere Textauszüge, die er erläutert und in die gesamte Entwicklung von Literatur, Philosophie und Theologie einordnet. Immer wieder werden Verbindungen zu anderen gezogen: Querverbindungen zu Zeitgenossen und Ideen-Verbindungen zu den Vorausgegangenen und Vorläufern. Die Auswahl der Werke ist natürlich auch davon mitbestimmt, eben diese Verbindungslinien aufzuzeigen. Am Schluss jedes Artikels steht dann ein Resümee, das auch grafisch abgesetzt und hervorgehoben ist: »Was bleibt?«
Das Buch wird vervollständigt durch ein »Personenlexikon 12. Jahrhundert bis 1744«. Hier sind Kurzbiografien von 81 bedeutenden Persönlichkeiten zu finden, darunter die 22 im Buch näher vorgestellten Literaten. Die weiteren Kurzbiografien beschreiben Menschen, die mit den Literaten in Verbindung standen und für sie große Bedeutung hatten. Dieses Personenlexikon lädt dazu ein, auch diese Zeitgenossen kennen zu lernen, auch über sie mehr zu lesen.
Viele der beschriebenen Orte können heute noch auf einer »Wanderung« (oder einer Fahrt) besucht werden. Das beginnt mit der Neuenburg bei Freyburg an der Unstrut, wo Heinrich von Veldeke (im ersten Beitrag des Buches beschrieben) zeitweise lebte und wirkte, und endet mit der Peter-und-Pauls-Kirche in Weimar, in der (im letzten Beitrag beschrieben) Johann Gottfried Herder predigte.
Das Buch verlockt zum Reisen, um die beschriebenen Orte zu besuchen und so ein Stück Mitteldeutschland kennen zu lernen. An vielen Orten gibt es ja nicht nur Denkmäler oder Grabsteine, die an die Literaten erinnern, sondern auch Museen, Gedenkstätten und andere Einrichtungen.
Auf diese Weise unterwegs zu sein ist wie eine Wanderung durch das Land und seine Geschichte. Gewiss kann Literatur die Geschichte eines Landes nicht vollständig beschreiben. Aber Literatur und eben auch die hier dargestellten Literaten widerspiegeln die Geschichte und die Landschaft. Wobei Landschaft nicht einfach die unberührte Natur meint, sondern das Land als gegebenen und gestalteten Lebensraum.
Dabei kann Literatur das Land, die Menschen und ihre Kultur einer bestimmten Epoche beleuchten – so wie der Strahl einer Lampe zumindest einen Teil eines großen Raumes erleuchtet. Wir dürfen allerdings nicht vergessen, dass Literatur (ebenso wie Wissenschaft, Philosophie, Theologie) nur für das Leben einer kleinen gebildeten Minderheit (man könnte Elite sagen) prägend war. Aber ist das heute anders (auch wenn Wissen und Bildung viel weiter verbreitet sind)?
Folgt man Andreas Eichler und verbindet Basel mit Königsberg, Bremen mit Wien (er spricht von »Kommunikationslinien«), so kreuzen sich diese Linien an der Mulde bei Hartenstein. Also genau dort, wo Paul Fleming geboren wurde – einer der beschriebenen Literaten. Aber Fleming blieb in seinem kurzen Leben nicht an der Mulde und in Mitteldeutschland, sondern reiste nach Nordosten weit über Königsberg hinaus bis Talinn (und weiter nach Moskau), in den Südosten weit über Wien hinaus bis nach Persien, um schließlich in Hamburg (also unweit von Bremen) zu sterben.
Vor Beginn seiner Reise nach Moskau (1633) schrieb Paul Fleming das Gedicht »In allen meinen Taten lass ich den Höchsten raten«. Als Lied (auf die Melodie »Innsbruck, ich muss dich lassen« von Heinrich Isaac) steht dieses Lied bis heute im Evangelischen Gesangbuch.
Johann Sebastian Bach vertonte dieses Gedicht und machte daraus seine gleichnamige Kantate (BWV 97). Das war übrigens 1734; in diesem Jahr schrieb Bach auch das Weihnachtsoratorium, das im Mittelpunkt von Andreas Eichlers Beitrag über den Leipziger Komponisten steht. Auch hier kreuzen sich die Linien von Geschichte und Literatur – bereichert noch durch die Musik.
Eines verbindet die so unterschiedlichen Literaten: Die Suche nach der Wahrheit. Haben sie sie gefunden? Mancher war davon selbst wohl überzeugt. Andere haben ihnen widersprochen, und das verlief nicht immer freundlich. Sie haben versucht zu verstehen, was die Welt im Innersten zusammenhält. An dieses Suchen zu erinnern und dieses Suchen wachzuhalten, zu dieser Suche einzuladen als Aufgabe auch unserer Tage, ist ein Verdienst dieses Buches. So unterschiedlich und vielfältig die Worte und Antworten auch ausfallen mögen.
Nicht jeder wird den Auslegungen und den philosophischen Gedankengängen des Autors in allen Punkten folgen wollen. Und nicht jeder wird den Ideen der beschriebenen Literaten und von Andreas Eichler folgen können. Aber auch wer dem Autor in die Tiefe der Literatur- und Philosophiegeschichte nicht folgen kann, wird dieses Buch mit Gewinn lesen. »Sprache und Eigensinn« will diese Wanderung durch das Land und seine Geistesgeschichte auch an die vermitteln, die nicht in dicken Fachbüchern lesen und niemals vielbändige Gesamtausgaben zur Hand nehmen würden.
Gewiss lässt sich im Buch auch der eine oder andere kleine Fehler finden. Aber nicht die Fehler und Irrtümer machen die Bedeutung eines Menschen (und seines Werkes) aus – sonst wäre dieses Buch vielleicht leer geblieben oder zumindest sehr viel dünner ausgefallen. Auf etwas anderes kommt es an: Was dieser und jener beigetragen hat zur Literatur, zur Geistesgeschichte, zur Kultur einer Landschaft, eines Landes, eines Volkes, einer Nation – und damit zur Vielfalt der Kulturen in der Welt.
Wolfgang Frech
Information
Andreas Eichler: Von den Minnesängern bis Herder. Sprache und Eigensinn. Teil 1. Mit einem Geleitwort von Klaus Walther.
23,0 × 23,0 cm, 320 Seiten, fester Einband, 203 farbige Abbildungen, 22 Karten
VP 29,90 €
ISBN 978-3-96063-025-8
http://buchversand.mironde.com/epages/es919510.sf/de_DE/?ObjectPath=/Shops/es919510/Products/9783960630258
Andreas Eichler: Literarische Wanderung durch Mitteldeutschland. Teil 2. Von Herder bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. Mit einem Geleitwort von Eberhard Görner. 23,0 × 23,0 cm, 320 Seiten, fester Einband, zahlreiche farbige Abbildungen und 22 Karten
VP 29,90 €
ISBN 978-3-96063-026-5
Erscheint am 25.8.2021
http://buchversand.mironde.com/epages/es919510.sf/de_DE/?ObjectPath=/Shops/es919510/Products/9783960630265
Die Litterata – Technik und Poesie in Mitteleuropa – ist ein Feuilleton des Mironde Verlags (www.mironde.com) und des Freundeskreises Gert Hofmann.