Reportagen

QUEDLINBURG IN MITTELDEUTSCHLAND

Dr. Ralph Aepler, der Vorsitzende der Pirckheimer Gesellschaft e.V., stellte am Abend des 27. Oktober auf Einladung des Rotary Clubs im Romantik-Hotel Quedlinburg unter dem Thema „Impulse zur gegenwärtigen Entwicklung der Lese-Kultur, zum Umgang mit historischen Bibliotheken, zur Entwicklung der Buchkultur in der veränderten Medienlandschaft“ die Arbeit der Pirckheimer Gesellschaft vor (Zeitschrift Marginalien, Grafikmappen, Jahresbände u.a.). Birgit und Dr. Andreas Eichler vom Mironde Verlag, ebenfalls Mitglieder der Pirckheimer Gesellschaft, stellte als Ergänzung das Verlagsprojekt „Literarische Wanderung durch Mitteldeutschland“ vor, von dem 2019 der erste Band aus der Feder Andreas Eichlers und 2021 der zweite von drei geplanten Bänden aus der Feder Johannes Eichenthals erschien.

Dr. Ralph Aepler, der Vorsitzende der Pirckheimer Gesellschaft e.V.

Andreas Eichler konzentrierte sich zunächst auf das Wort „Lesekultur“. Bei diesem Wort werde gewöhnlich nur an den Umgang mit der Schriftsprache gedacht. Aber die Schriftsprache stehe in einem lebendigen Zusammenhang mit der Laut- und der Zeichensprache. Mindestens diese drei Aspekte könnten deutlich machen,welchen Umfang Sprache besitze. Von hier aus könne man verstehen, dass die bezeichnende Sprache, die Sprachvernunft (Logos), keine Eigenschaft des Menschen neben anderen, sondern die Disposition des Menschen sei (Johann Gottfried Herder). Diese organische Kraft des Menschen vereinige den inneren Zusammenhang der Sinneswahrnehmungen, die Kommunikationsfähigkeit und die eigene Handlungssteuerung. Damit werde deutlich, dass sich Menschen in Sprachvernunft konstituieren, nicht in „Bewusstsein“. Herders Aphorismus bringt die Zusammenhänge auf den Punkt: Sprache widerspiegelt nicht nur Wirklichkeit, sondern schafft sie auch.

Was bedeutet das für unser Selbstverständnis?

Wenn wir uns der mitteldeutschen Mentalität bewusst werden wollen, dann brauchen wir ein inneres Bild vom sprachlichen und literarischen Überlieferungsprozess.

Die Besonderheit Mitteldeutschlands, der Region zwischen Braunschweig und Görlitz, besteht darin, dass hier zwischen dem 11. und dem 13. Jahrhundert die mittelhochdeutsche Sprache durch den Ausgleich zwischen niederdeutschen, oberdeutschen und slawischen Dialekten, und damit die erste Kommunikationsmöglichkeit der entstehenden Nation, entstand. Mit der Erneuerung des Althochdeutschen entstand zugleich ein Erneuerungsdenken. In anderen Teilen des deutschen Königreiches verwendeten die Funktionseliten noch lange ausschließlich die lateinische Sprache. In der Region Mitteldeutschland entstanden in der Folge dagegen nahezu alle Erneuerungsbewegungen der deutschen Geschichte (Reformation, Neuhochdeutsche, Klassik, Romantik, Industrie, Technik, Technologie, Arbeiterbewegung usw.).

Eichler fasste am Ende zusammen, dass der Verlag mit dem Buchprojekt „Literarische Wanderung durch Mitteldeutschland“ die sprachliche und literarische Entwicklung nachvollziehbar machen will. Man habe Persönlichkeiten aus verschiedenen Genres ausgewählt: Prosa, Lyrik, Naturwissenschaft, Medizin, Technik, Technologie, Theologie, Philosophie u.a. Das Kriterium sei gewesen, dass die jeweilige Persönlichkeit in deutscher Sprache einen Text publizierte. Pro Band werden je 20 Personen mit einer Kurzbiographie dargestellt, es wird in einen originalen Text eingeführt und danach gefragt: was bleibt? Zahlreiche Abbildungen (Fotos, Zeichnungen, Gemälde) und je ein Stadtplan ergänzen den Text. 

Dr. Andreas Eichler vom Mironde Verlag (stehend)

Wie wird der Zusammenhang zwischen den Persönlichkeiten dargestellt?

Einerseits als Generationenzusammenhang. Es wird der Bezug auf Vorgänger und Vorgängerthemen deutlich gemacht. Andererseits werden verschiedene Formen der Überlieferung einbezogen: mündliche, volkstümliche, literarische, akademische u.a.

Mit dem inneren Bild vom Zusammenhang unseres literarischen Erbes erlangen wir die Fähigkeit zum selbstständigen Herstellen von unbekannten Zusammenhängen.

Die digitale Wissensvermittlung ergänze heute die traditionelle Überlieferung in mündlicher- und Buchform. Mit Suchfunktionen kann man in den Texten schnell einzelne Worte und Zahlen finden. Aber diese Suchfunktion arbeitet wie ein Navigationssystem. Es führt uns nur dahin, wonach wir suchen. Es liefert uns nur bekanntes Wissen. Für die Erschließung neuer und unbekannter Zusammenhänge taugt das digitale Verfahren nicht.

Zusammenfassend meinte Eichler: Die Vorstellung eines Nebeneinander der Medien hilft uns nicht. Wir brauchen eine Vorstellung vom inneren Zusammenhang des Überlieferungsprozesses – um unser Erbe anzueignen.

Mit einer umfangreichen Diskussion klang diese Veranstaltung aus.

Kommentar

Wir treten aus dem Tagungsraum und unser Blick fällt auf den Burgberg mit der beleuchteten Stiftskirche. Am anderen Morgen sehen wir, dass der gesamte Burgberg eine einzige Baustelle ist. Mit großem Aufwand wird am Erhalt der Baudenkmale der Stadt gearbeitet. Der gesamte Stadtkern von Quedlinburg wurde zum „Welterbe“ erklärt.

Wir erinnern uns an den Weimarer Geheimrat, der darauf verwies, dass man sich das Erbe aktiv aneignen muss, wenn man es nicht verlieren will. Ist nicht dieser Ort mit seinen jahrtausendalten Besiedlungsschichten unterschiedlicher Kulturen, der im Zentrum der Region Mitteldeutschland liegt, im Schnittpunkt jahrtausendalter Kommunikationslinien zwischen Ostpreußen, Basel, Südfrankreich und zwischen der Wesermündung, Wien, Konstantinopel nahezu ein Symbol der Region Mitteldeutschland, der mitteldeutschen Mentalität, der Erneuerungsfähigkeit? 

In den denkmalgeschützten Bauwerken kann man den Geist der Romanik heute noch wahrnehmen und zugleich den Einfluss burgundischer, lombardischer und byzantinischer Baukultur erkennen. Seit Jahrhunderten ist Quedlinburg ein Ort der Landwirtschaft und Industrie. Bis Anfang der 1990er Jahre befand sich hier der größte Saatgutbetrieb der Welt.

Wenn wir uns über die Sachzeugnisse hinaus auch den Geist unseres Erbes, der mitteldeutschen Kultur, der mitteldeutschen Mentalität, aneignen wollen, dann kommen wir um die Aneignung der sprachlichen und literarischen Überlieferung unseres Erbes nicht umhin.

Johannes Eichenthal


Am 27.10. erreichte uns eine Rezension der Bände 1 und 2 der Literarischen Wanderung durch Mitteldeutschland von Prof. Dr. med., Dr. rer. nat., Dr. hc. (mult.) Klaus Kayser

Buchbesprechung: Sprache und Eigensinn

Von den Minnesängern bis Herder. Sprache und Eigensinn 1, von Andreas Eichler, Mironde Verlag 2019

ISBN: 978-3-96063-025-8

Von Goethe bis Rathenau. Sprache und Eigensinn 2, von Johannes Eichenthal, Mironde Verlag 2021

ISBN: 978-3-96063-026-5

Vorab: Dies ist ein wunderbar zu lesendes, literarisch anspruchsvolles und formal hervorragend gestaltetes zwei-Bände Werk, das allen literarischen Ansprüchen modernen Wissens und grundsätzlichem Verstehens gerecht wird.

Für wen und warum?

Hierzu eine kurze Vorbemerkung: Unsere Kultur beruht auf zwei grundsätzlichen Säulen, der Zeitüberbrückung visueller und akustischer Informationen; visuell durch Gemälde, Bilder, Zeichnungen, etc. und akustisch zunächst durch schriftliche Aufzeichnungen (Sprachübertragung in die visuelle Welt der Schrift, Gedichte, Romane, Schriften, etc.). Beide sind heute durch elektronische Speichermedien ergänzt und teilweise ersetzt.

Das von Andreas Eichler und Johannes Eichenthal verfasste Werk bedient sich beider Informationswelten in einer einzigartigen kombinierten und fachlich ausgereiften Form.

Formal zeigt es auszugweise Texte im Original, Abbildungen zugeordneter Gemälde und Fotografien, sowie in Blockdarstellung zusammen gefasster Inhalte unter der Überschrift ‚Was bleibt?‘ und die ‚Klipp-Reiterdarstellung‘ der erwähnten Verfassernamen im unteren rechtsbündigen Seitenrand. 

Diese teilweise der Gestaltung moderner Lehrbücher nachempfundene Darstellung von Informations- Gehalt, – Gewicht und – Deutung ist für den Leser ein klar lesbares Navigationsinstrument, wie Wissen in den wirren Zeiten der Reformation in die Ära der Aufklärung und danach in die Ursprünge unserer modernen Kommunikationswelt übertragen wurde. 

Der Umfang des Informationsinhaltes ist überwältigend und in der heutigen Literatur einzigartig. Längst vergessene, aber zu ihren Lebzeiten prägende Persönlichkeiten (zum Beispiel Johannes Tauler und Heinrich Seuse, die des ‚Frankfurter‘) werden ebenso ausführlich beschrieben wie die durch den dunklen Nachthimmel auch heute noch strahlenden Leuchtturmgiganten (zum Beispiel Wolfgang von Goethe oder ‚der Alte aus Weimar‘). 

Die Deutung oder das dem Leser zugetragene Verstehen richtet sich aus an der Zeitachse. Es folgt der natürlichen Vorgabe: nach vorgestern folgt gestern und nach gestern ist das Heute. Hierbei ordnen Andreas Eichler und Johannes Eichenthal die Träger dieser Zeitachse durchaus parallel und strukturell regional an; eine Vorgehensweise, die den örtlichen Bezug auf Kultur, Wissen und Verstand offen legt. Hier findet sich der inhaltliche Wert des Werkes: Regionale Besonderheiten sind eine bedeutende Urkraft des menschlichen Verstandes und sollten als wichtige Grenze des sogenannten, oft geforderten ‚möglichst alles und jeden Gleichmachen‘ verstanden werden. 

Wir stimmen zu: Regionale und kulturelle Grenzen sind ein notwendiges Werkzeug, um neue, über den individuellen Tagesbereich wirkende Erkenntnisse zu erarbeiten und höhere ‚Verstandesebenen‘ zu besetzen. Nur über das Hindernis von räumlichen und auch zeitlichen Grenzen und dessen Überwindung konnten die kulturellen und wissenschaftlichen Kenntnisse erreicht werden, die der Menschheit Reisen zum Mond und Mars, Überlegungen über mögliche Unsterblichkeit und über die Ursprünge des Weltalls ermöglichen, wie in den entsprechenden Wikipedia Seiten nachzulesen ist.

Dieses Werk ist weit mehr als eine zu Papier gebrachte Wikipedia Ausgabe über die Entwicklung regionaler Kultur und ‚Kulturschaffender‘ in Deutschland. Es weist auf die Werte und deren Voraussetzung für unsere freiheitlich demokratische Republik hin, deren Ziele an den Begriffen der französischen Revolution einst blutig erarbeitet wurden. Es verschweigt dem nachdenklichen Leser aber auch nicht die an unserer Geschichte ablesbaren und eindringlich warnenden Signale einer unabwendbaren Selbstzerstörung, wenn ‚kultureller Übermut‘ die Grenzen zerbricht, die für die Aufrechterhaltung der Strukturen von Freiheit und Gerechtigkeit unabdingbar sind.

Insofern sind die sorgsam aufeinander abgestimmten Bände vorbehaltlos jedem Leser zu empfehlen, der Aufregung, Freude und Entspannung an einer detailliert erarbeiteten geschichtlichen Darstellung unserer kulturellen Entwicklung empfindet. Es vermittelt Wissen, Verstehen und Nachdenken über Geschehenes, über Ausbreitung und Grenzen, über Folgen und Einwirken auf die Zukunft. In diesem Sinn ist es ein wertvolles Werkzeug für Auszubildende und Interessierte und auch diesem Leserkreis in vollem Umfang zu empfehlen.

Klaus Kayser, Heidelberg, 25. Oktober 2021 (www.ki-universum.de)

Die Litterata – Technik und Poesie in Mitteleuropa – ist ein Feuilleton des Mironde Verlags (www.mironde.com) und des Freundeskreises Gert Hofmann.

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