Der 28. August war ein sehr heißer Sommertag. Die Mitglieder der Goethe-Gesellschaft Chemnitz trafen am Nachmittag im Garten ihres Vorsitzenden zusammen, um den Geburtstag ihres Namensgebers zu begehen. Wie ehrt man einen Poeten? Einzig auf poetische Weise. Deshalb deklamierte Siegfried Arlt einen Hymnus auf die Natur, der Goethe zugeschrieben wird, jedoch vermutlich, wie Arlt anmerkte, von Georg Christoph Tobler stammt.
Fragment über die Natur
Natur! Wir sind von ihr umgeben und umschlungen – unvermögend aus ihr herauszutreten, und unvermögend tiefer in sie hineinzukommen. Ungebeten und ungewarnt nimmt sie uns in den Kreislauf ihres Tanzes auf und treibt sich mit uns fort, bis wir ermüdet sind und ihrem Arme entfallen. Sie schafft ewig neue Gestalten, was da ist, war noch nie, was war, kommt nicht wieder – alles ist neu, und doch immer das Alte. Wir leben mitten in ihr und sind ihr fremde. Sie spricht unaufhörlich mit uns und verrät uns ihr Geheimnis nicht. Wir wirken beständig auf sie und haben doch keine Gewalt über sie. Sie scheint alles auf Individualität angelegt zu haben und macht sich nichts aus den Individuen. Sie baut immer und zerstört immer, und ihre Werkstätte ist unzugänglich. Sie lebt in lauter Kindern, und die Mutter, wo ist sie? – Sie ist die einzige Künstlerin: aus dem simpelsten Stoff zu den größten Kontrasten; ohne Schein der Anstrengung zu der größten Vollendung – zur genausten Bestimmtheit, immer mit etwas Weichem überzogen. Jedes ihrer Werke hat ein eigenes Wesen, jede ihrer Erscheinungen den isoliertesten Begriff, und doch macht alles eins aus. Sie spielt ein Schauspiel: ob sie es selbst sieht, wissen wir nicht, und doch spielt sie’s für uns, die wir in der Ecke stehen. Es ist ein ewiges Leben, Werden und Bewegen in ihr, und doch rückt sie nicht weiter. Sie verwandelt sich ewig, und ist kein Moment Stillestehen in ihr. Für’s Bleiben hat sie keinen Begriff, und ihren Fluch hat sie ans Stillestehen gehängt. Sie ist fest. Ihr Tritt ist gemessen, ihre Ausnahmen selten, ihre Gesetze unwandelbar. Gedacht hat sie und sinnt beständig; aber nicht als ein Mensch, sondern als Natur. Sie hat sich einen eigenen allumfassenden Sinn vorbehalten, den ihr niemand abmerken kann.
Die Menschen sind alle in ihr und sie in allen. Mit allen treibt sie ein freundliches Spiel und freut sich, je mehr man ihr abgewinnt. Sie treibt’s mit vielen so im Verborgenen, daß sie’s zu Ende spielt, ehe sie’s merken. Auch das Unnatürlichste ist Natur, auch die plumpste Philisterei hat etwas von ihrem Genie. Wer sie nicht allenthalben sieht, sieht sie nirgendwo recht. Sie liebt sich selber und haftet ewig mit Augen und Herzen ohne Zahl an sich selbst. Sie hat sich auseinandergesetzt, um sich selbst zu genießen. Immer läßt sie neue Genießer erwachsen, unersättlich sich mitzuteilen. Sie freut sich an der Illusion. Wer diese in sich und andern zerstört, den straft sie als der strengste Tyrann. Wer ihr zutraulich folgt, den drückt sie wie ein Kind an ihr Herz.
Ihre Kinder sind ohne Zahl. Keinem ist sie überall karg, aber sie hat Lieblinge, an die sie viel verschwendet und denen sie viel aufopfert. Ans Große hat sie ihren Schutz geknüpft. Sie hat wenige Triebfedern, aber, nie abgenutzte, immer wirksam, immer mannigfaltig. Sie spritzt ihre Geschöpfe aus dem Nichts hervor und sagt ihnen nicht, woher sie kommen und wohin sie gehen. Sie sollen nur laufen; die Bahn kennt sie. Ihr Schauspiel ist immer neu, weil sie immer neue Zuschauer schafft. Leben ist ihre schönste Erfindung, und der Tod ist ihr Kunstgriff, viel Leben zu haben. Sie hüllt den Menschen in Dumpfheit ein und spornt ihn ewig zum Lichte. Sie macht ihn abhängig zur Erde, träg und schwer, und schüttelt ihn immer wieder auf.
Sie gibt Bedürfnisse, weil sie Bewegung liebt. Wunder, daß sie alle diese Bewegung mit so wenigem erreicht. Jedes Bedürfnis ist Wohltat; schnell befriedigt, schnell wieder erwachsend. Gibt sie eins mehr, so ist’s ein neuer Quell der Lust; aber sie kommt bald ins Gleichgewicht. Sie setzt alle Augenblicke zum längsten Lauf an, und ist alle Augenblicke am Ziele. Sie ist die Eitelkeit selbst, aber nicht für uns, denen sie sich zur größten Wichtigkeit gemacht hat. Sie läßt jedes Kind an sich künsteln, jeden Toren über sich richten, Tausende stumpf über sich hingehen und nichts sehen, und hat an allen ihre Freude und findet bei allen ihre Rechnung.
Man gehorcht ihren Gesetzen, auch wenn man ihnen widerstrebt; man wirkt mit ihr, auch wenn man gegen sie wirken will. Sie macht alles, was sie gibt, zur Wohltat, denn sie macht es erst unentbehrlich. Sie säumet, daß man sie verlange; sie eilet, daß man sie nicht satt werde. Sie hat keine Sprache noch Rede, aber sie schafft Zungen und Herzen, durch die sie fühlt und spricht. Ihre Krone ist die Liebe. Nur durch sie kommt man ihr nahe. Sie macht Klüfte zwischen allen Wesen, und alles will sich verschlingen. Sie hat alles isoliert, um alles zusammenzuziehen. Durch ein paar Züge aus dem Becher der Liebe hält sie für ein Leben voll Mühe schadlos.
Sie ist alles. Sie belohnt sich selbst und bestraft sich selbst, erfreut und quält sich selbst. Sie ist rauh und gelinde, lieblich und schrecklich, kraftlos und allgewaltig. Alles ist immer da in ihr. Vergangenheit und Zukunft kennt sie nicht. Gegenwart ist ihr Ewigkeit. Sie ist gütig. Ich preise sie mit allen ihren Werken. Sie ist weise und still. Man reißt ihr keine Erklärung vom Leibe, trutzt ihr kein Geschenk ab, das sie nicht freiwillig gibt. Sie ist listig, aber zu gutem Ziele, und am besten ist’s, ihre List nicht zu merken. Sie ist ganz, und doch immer unvollendet. So wie sie’s treibt, kann sie’s immer treiben.
Jedem erscheint sie in einer eignen Gestalt. Sie verbirgt sich in tausend Namen und Termen, und ist immer dieselbe. Sie hat mich hereingestellt, sie wird mich auch herausführen. Ich vertraue mich ihr. Sie mag mit mir schalten. Sie wird ihr Werk nicht hassen. Ich sprach nicht von ihr. Nein, was wahr ist und was falsch ist, alles hat sie gesprochen. Alles ist ihre Schuld, alles ihr Verdienst.
Was bleibt?
Der rezitierte Text erschien erstmals 1784 im „Tiefurter Journal“, einer Publikation des Tiefurter Musenkreises um Altherzogin Anna Amalia, dem so ziemlich alle Weimarer Geistesgrößen und ihre jeweiligen Gäste angehörten. Die Gedanken, die der Natur-Hymnus befördert, haben eine lange Tradition. Hier sei nur an die Linie von Lukrez (Über die Natur der Dinge), den Earl of Shafesbury (Hymnus auf die Natur) und Erasmus Darwin (The Botanic Garden) erinnert, die in Weimar aufgenommen wurde. Wichtig ist, dass Goethe sich der poetischen Sicht auf die Natur verschrieb. Damit stand er gegen die Mainstream-Meinung der neuzeitlichen europäischen Naturwissenschaft, die „Natur“ nur als ein Zahlenkonstrukt behandelte, und, wie Ricarda Huch bemerkte, damit den Eindruck erweckte, als ob Natur etwas „neben“ unserem Leben sei. Wir können davon ausgehen, dass die poetische Sicht auf die Natur in Weimar diskutiert wurde. Herder arbeitete seit seiner Jugend an diesem Thema. 1784 erschien der erste Band seiner „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“. Herder stellte Natur hier erstmals als ein Lebewesen, als ein organisches System dar. Es dauerte fast 200 Jahre, bis die Mikrobiologin Lynn Margulis und der Chemiker, Biophysiker und Mediziner James Lovelock Mitte der 1970er Jahre die sogenannte Gaia-Hypothese aufstellten, nach der die Erde ein Lebewesen, ein organisches System sein könnte, ohne die poetische Überlieferung genau zu kennen.
Heute ist es eine existenzielle Frage, dass die Menschheit die von der westlichen Wachstums- und Wegwerfkultur über 500 Jahre geprägte Haltung des bloßen Konsumenten überwindet, und sich wieder in den Naturkreislauf einordnet. Von den „exakten“ Naturwissenschaften ist bislang kein Beitrag dazu erfolgt. Die Wissenschaft vermag nicht einmal ein Bild vom Naturkreislauf zu entwickeln. Mit der Reduktion von Vernunft auf bloß berechnenden Verstand kommt man hier auch nicht weiter.
Um so wichtiger ist der Vorschlag Siegfried Arlts. Die Poesie ist das Sagen des Unsagbaren, das Sichtbarmachen des Nichtsichtbaren. Aber unser poetisches Verhältnis zur Welt bedingt die Einheit der Gegensätze von Religiösität und Vernunft. Das wird bei der Lektüre des Textes deutlich, „Natur“ wird mit „Gott“ gleichgesetzt. Bei Herder ist „Gott“ dann die organische Kraft des Universums.
Der Goethe-Gesellschaft Chemnitz und ihrem Vorsitzenden Siegfried Arlt ist für seine Rezitation in der Hitze des Sommers zu danken. Der Ernst des Themas ist ohne Zweifel des Schweißes der Edlen wert.
Johannes Eichenthal
Die Litterata – Technik und Poesie in Mitteleuropa – ist ein Feuilleton des Mironde Verlags (www.mironde.com) und des Freundeskreises Gert Hofmann.