Der 29. Januar war fast schon ein Frühlingstag. Sonne und Regen wechselten sich ab. Die Abenddämmerung, nach dem Abflauen des Windes, in nahezu milder Temperatur. In Crimmitschau zog es an diesem Abend viele Menschen in das städtische Theater. Sie wollten aber weder eine Operette sehen noch ein Konzert hören. Das obere Foyer, ein Saal mit Kaffeehaus-Ambiente und einer kleinen Bühne, füllte sich zusehens. Schließlich waren alle Plätze besetzt. Die Veranstaltung der Stadtbibliothek war ausverkauft.

Mit einer kleinen Verspätung, wie es sich für eine große Veranstaltung gehört, betraten der Buchautor Prof. Eberhard Görner und der Schauspieler Gojko Mitić die Bühne. Und schon begann die Lesung. Man konnte den Zuschauerinnen und Zuschauern ansehen, dass sie zunächst nicht wussten, worum es geht.

Eberhard Görner bemühte sich redlich die Unbequemlichkeiten und Gefahren einer Schiffsüberfahrt nach Amerika im 18. Jahrhundert zu schildern. Dem Anschein nach kannte hier jedoch niemand den Helden seines Buches Pfarrer Melchior Heinrich Mühlenberg, der von den Franckeschen Stiftungen aus Halle nach Pennsylvanien geschickt wurde, um Ordnung in der evangelischen Gemeinde zu schaffen. Im Unterschied zu Nikolaus Graf Zinsendorf wollte Mühlenberg die Ureinwohner nicht zum christlichen Glauben bekehren und im Unterschied zu Franzosen und Engländern traten die Deutschen nicht als machtgierige Eroberer auf. Doch der „Controler“ Mühlenberg, wie man heute sagen würde, kam in den Herzen der Gäste nicht so recht an.

Ganz anders war das mit dem Delawaren-Häuptling „Fliegender Pfeil“. Kaum hatte Gojko Mitić in dieser Rolle den ersten Satz gesagt, flogen ihm die Herzen der Zuschauerinnen und Zuschauer zu. Auch die Personenbeschreibung – ein stattlicher Mann von 60 Jahren, der immer noch aus dem Stand auf ein Pferd zu springen vermag – bestärkte die Identifikation von Gojko Mitić mit dem Häuptling „Fliegender Pfeil“.

Durch eine geschickt Auswahl der Dialoge vermochten die beiden Akteure die Gäste in einer Stunde durch das ganz Buch zu führen. Damit war die Veranstaltung eigentlich zu Ende. Eine Zuschauerin fragte jedoch Eberhard Görner, warum er das Buch geschrieben und wie lange er recherchiert habe. Nun erzählte der Autor, der auch Regisseur und Filmemacher ist, frei. Nach einem Film über die Franckeschen Stiftungen in Halle kam einer über den Pfarrer Melchior Heinrich Mühlenberg hinzu, weil einer der Stiftungsangestellten, ein Theologe, der zu Mühlenberg promoviert wurde, darauf drängte, und weil er in das Umfeld des Reformationsjubiläums passte. Zur Recherche wurde der Briefwechsel Mühlenbergs mit der Zentrale in Halle zugänglich gemacht. Die Recherche war die Voraussetzung für das Buch, das 2011 im Mitteldeutschen Verlag in Halle erschien. Die Person des Häuptlings habe er erfunden, weil er sich gewünscht habe, dass Gojko Mitić noch einmal eine große Filmrolle spielen könne.

Die gleiche Zuschauerin fragte Gojko Mitić, ob er die Sioux-Dakota, deren Häuptling „Tokei-ihto“ er in seinem ersten DEFA-Film „Die Söhne der großen Bärin“ im Jahre 1965 verkörperte, später einmal besuchte und ob vielleicht dort seine Filme aufgeführt wurden. Gojko Mitic antwortete, dass ein Absolvent der TU Karl-Marx-Stadt/Chemnitz, der Anfang der 1990er Jahren bei einem US-Computer-Konzern arbeitete, die DEFA-Filme mit nach Seattle genommen und bei den Sioux aufgeführt habe. Dessen Einladung sei er dann gefolgt. Nach der Vorstellung sei er von Stammesmitgliedern vor dem Kino als „unser Bruder“ empfangen worden. Der Häuptling habe ihm mit den Worten „sie hat uns vor Regen, Wind, Kälte und Schnee geschützt, jetzt wird sie Dich beschützen“ eine Decke umgelegt. (Eine solche Auszeichnung mit der „Schutzdecke der Lakota“ hat die Bedeutung einer Ehrenmitgliedschaft. Liselotte Welskopf-Henrich, die Autorin des Roman-Epos „Die Söhne der großen Bärin“, wurde vor Gojko Mitić diese Ehre zuteil.) Nach der Zeremonie wurde Gojko Mitić gebeten am Powwow teilzunehmen. Er habe über eine Stunde im Kreis getanzt und gesungen. Zum Glück, so Gojko in seiner Bescheidenheit, habe er bei den Dreharbeiten zu den Filmen etwas Choreographie gelernt. Wer ihn aber in seinen Filmen sah, der weiß, dass ihm das Rhythmusgefühl im Blut liegt.

Man konnte die Ergriffenheit der Zuschauer bei diesen Schilderungen spüren. Eher nachdenklich ging dieses Ereignis zu Ende. Sie brauchten nach der nahezu pastoralen Rede einige Sekunden zur Besinnung. Aber dann stürmte alle gleichzeitig auf die Bühne, um sich die Bücher signieren zu lassen.
Allen Aktiven, Organisatoren und Zuschauern ist für dieses Ereignis zu danken. Auf der Heimfahrt wurde uns noch einmal klar, wie wichtig ein solches Gebäude und eine solche Institution, wie das Theater einer Stadt ist.

Nachtrag. Der Roman Eberhard Görners wurde eigentlich zum Zwecke der Verfilmung geschrieben. Er ist von der Struktur her auch eine Art „Drehbuch“. Doch die Umstände der letzten Jahrzehnte verhinderten ein solches Projekt. Das liegt sicher einerseits daran, dass die Rolle der Deutschen bei der Entstehung der Vereinigten Staaten bereits mit Beginn des Ersten Weltkrieges bedeutungslos wurde. Die USA übernahmen die Rolle des niedergehenden britischen Empires. Die einstigen Waffenlieferungen Frankreichs für die Aufständischen und die mäßigende Rolle der Deutschen wurden vergessen. So ist es dem Anschein nach heute nur noch von enger geschichtswissenschaftlicher Bedeutung, dass Mühlenberg als Begründer des US-Luthertums gilt. Auch hat die protestantische Theologie drängendere Aufgaben. Reinhold Niebuhr (1992–1971) war einer der Nachfolger Mühlenbergs, der in den 1960er Jahren bereits die Aufgaben thematisierte, die heute vor uns stehen.
Ganz anders ist es jedoch mit dem Delawaren-Häuptling. Warum bedurft es des Umweges über Pfarrer Mühlenberg, um eine solch herausragende Figur wie „Fliegender Pfeil“ zu erfinden? Wann schreibt Prof. Eberhard Görner endlich einen Roman über das Schicksal der Delawaren? Seinen Hauptdarsteller hätte er schon. Doch hier müssen wir uns leider korrigieren. Wie alle Zuschauer hatten wir die Darstellung des Häuptlings als „Mann von 60 Jahren“ sofort mit Gojko Mitić identifiziert. Doch ein Blick ins Lexikon belehrte uns: Gojko Mitić wird in diesem Jahr seinen 85. Geburtstag begehen. Unglaublich!
Johannes Eichenthal
Information

Eberhard Görner: In Gottes Eigenem Land : Heinrich Melchior Mühlenberg – der Vater des amerikanischen Luthertums. Historischer Roman. Mitteldeutscher Verlag 2011. Geb. 324 S. ISBN 978-3-89812-766-0
Links zu bisherigen Litterata-Artikel zum Buch Eberhard Görners
Niederfrohna 2011: https://www.mironde.com/litterata/852/reportagen/heinrich-melchior-muhlenberg-und-hauptling-fliegender-pfeil-zu-gast
Ein Beitrag des Historikers Dr. Hans-Jürgen Wendler zum 300. Geburtstag Mühlenbergs. https://www.mironde.com/litterata/659/reportagen/heinrich-melchior-muhlenberg-zum-300-geburtstag-6-9-1711-bis-7-10-1787
Eine Rezension des Buches: https://www.mironde.com/litterata/2107/essay/meine-uberfahrt-nach-pennsylvanien
Hohenstein-Ernstthal 2012: https://www.mironde.com/litterata/1283/reportagen/in-gottes-eigenem-land
Limbach-Oberfrohna 2017: https://www.mironde.com/litterata/5955/reportagen/haeuptling-fliegender-pfeil
Die Litterata – Technik und Poesie in Mitteleuropa – ist ein Feuilleton des Mironde Verlags (www.mironde.com) und des Freundeskreises Gert Hofmann.