Reportagen

VON KOMMENDEN DINGEN

Am Abend des 28. September 2017 trat der Filmemacher Professor Eberhard Görner im Schweriner Schleswig-Holstein-Haus mit seinem Film über Walter Rathenau auf.

Görner referierte anlässlich des 150. Geburtstages Walter Rathenaus, der am 29. September 1867 in Berlin geboren wurde, zunächst zum Verhältnis von Rathenau zu Thomas Mann. Aus Tagebüchern und Briefen arbeitete der Autor eine skeptisch-kritische Annäherung heraus. Thomas Mann verfolgte aufmerksam die Äußerungen Rathenaus. Umgekehrt nahm Rathenau die Bücher Heinrich und Thomas Manns zur Kenntnis. (Thomas Mann vertrat nach 1945 ähnliche Positionen zur Deutschland- und Europapolitik wie Walter Rathenau.)

Anschließend zeigte Eberhard Görner seinen Film »Von kommenden Dingen. Walther Rathenau in Bad Freienwald«. Im Jahre 1909 hatte Rathenau dort ein preußisches Schlösschen, eigentlich ein Landhaus, als Arbeitsrefugium gekauft. Das Gebäude und der Garten werden ausführlich vorgestellt. Zeitzeugen und Wissenschaftler kommen zu Wort. Briefe aus der Freienwalder Zeit und Textauszüge Rathenaus sind zentrale Punkte des Films. Briefpartner Rathenaus waren u.a. Alfred Adler, Hermann Bahr, Lujo Brentano, Constantin Brunner, Richard Dehmel, Friedrich Ebert, Mathias Erzberger, Rudolf Eucken, Maximilian Harden, Gerhart Hauptmann, Hermann Hesse, Arthur Holitscher, Theodor Lessing, Friedrich List, Ernst Mach, Fritz Mauthner, William von Moellendorff, Börries von Münchhausen, Edvard Munch, Theodor Niemeyer, Oswald Spengler, Frank Wedekind, Theodor Wolff und Stefan Zweig.

Dem letzte Lebensjahr, dem Abschied Rathenaus von Bad Freienwalde, schenkt Görner besondere Aufmerksamkeit. Historischen folgen auch aktuelle Aufnahmen vom Verhandlungsort Rapallo, wo am 16. April 1922 ein Vertrag zwischen dem Deutschen Reich und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, von dem deutschen Außenminister Walter Rathenau und dem russischen Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten Georgi Wassiljewitsch Tschitscherin unterzeichnet wurde. Am 24. Juni 1922 wurde Walter Rathenau in Berlin von zwei jungen Offizieren, die der »Organisation Consul« unter Kapitänleutnant von Killinger angehörten, im offenen Wagen erschossen.

Görners Film stellt den Menschen Rathenau in den Mittelpunkt. Dabei wird deutlich, dass Rathenau nicht nur Außenminister sondern auch Wirtschaftsexperte, Organisationsgenie, Führungsgestalt, Philosoph, Maler und Musiker war.

Es schloss sich eine interessante Diskussion an. Nahezu alle Redner lobten den Film, die Kameraführung und die Filmmusik von Günter Fischer. Einige Teilnehmer berichteten, dass man den Film mehrfach sehen könne und immer wieder neue Anregungen empfange. Ein größeres Lob kann es für einen Film nicht geben.

Kommentar

Auf dem Heimweg durch die romantischen Gassen und schmalen Straßen der Schweriner Innenstadt dachten wir über Film und Diskussion nach. Warum ist Walter Rathenau heute fast vergessen?

Vielleicht, weil Rathenau in keine Schublade der so genanten »Erinnerungskultur« passt? Dem Anschein nach gibt es zwei extreme Sichtweisen auf Walter Rathenau.

Die einen sehen den Vertrag von Rapallo als Fehler an, ziehen von dort einen kurzen Schluss zum Nichtangriffsvertrag zwischen dem Deutschen Reich und der UdSSR von 1939 und folgern dann, dass Rathenau einen angeblichen »Deutschen Sonderweg« beschritten habe. Doch grundsätzlich beschreiten alle Nationen ihre Sonderwege. Zudem muss man berücksichtigen, dass die Sieger des Ersten Weltkrieges, Vereinigte Staaten von Amerika, Groß-Britannien und Frankreich. in der Tradition des 19. Jahrhunderts ausschließlich nationale Machtinteressen vertraten. Frankreich und Groß-Britannien hatten sich noch während des Kriege, im Jahre 1916, den Nahen Osten aufgeteilt. Das Türkische Reich und das Königreich Österreich-Ungarn wurden zu diesem Zweck in der »Nachkriegsordnung« zerschlagen. Staaten-Neugründungen wurden in Europa nach dem Gutdünken der Sieger vollzogen, Ländergrenzen radikal verändert. Dem Deutschen Reich lasteten die Sieger mit dem Friedensvertrag von Versailles vom 11. November 1918 die »Alleinschuld« am Ersten Weltkrieg an, verlangten Reparationen in unbezahlbarer Höhe und enteigneten dem Land riesige Gebiete. Welche westlichen Werte lagen diesem Vorgehen wohl zugrunde? Waren das nicht nur kurzsichtige Nationalinteressen, wie sie vom Deutschen Reich auch durchgesetzt wurden? Nach dem Aufstand im Oktober 1917 gab es in Sowjetrussland keine Armee mehr. Eine Ursache des Aufstandes war gewesen, dass die Bauern im dritten Kriegsjahr nach Hause wollten. Das Dekret über die Einstellung der Kampfhandlung der russischen Armee vom 7./8. November 1917 und die Demobilisierung waren erste Aktionen des neuen Staates. Doch am 18. Februar 1918 begann eine Offensive der deutschen Reichswehr gegen Sowjetrussland. Auch die Gründung der »Roten Armee« am 23. Februar 1918 konnte nichts an der Niederlage Russlands ändern. So erzwang das Deutsche Reich am 3. März 1918 in Brest einen Friedensvertrag mit Russland, der den späteren Vertrag vom 11. November 1918 von Versailles an brutaler Härte übertraf. Die Reichswehr rückte in etwa auf die Linien vor, die 1941/42 von der Wehrmacht besetzt wurden (vgl. Rolf-Dieter Müller: Der Feind steht im Osten. Christoph-Links Verlag). Erst die bedingungslose Kapitulation Deutschlands machte diesem Eroberungswahn ein Ende. Es war kein ehrenhafter Frieden, den das Deutsche Reich dem russischen Staat aufgezwungen hatte. Sowjetrussland war gedehmütigt worden.

So war der Vertrag von Rapallo im März 1922 zunächst eine Rücknahme der Demütigung und darüber hinaus der Versuch, gleichberechtigte Verhältniss zwischen zwei geopolitisch wichtigen europäischen Nationen herzustellen; ein völkerrechtlich bedeutsamer Schritt in die Zukunft. Walter Rathenau hob mehr als ein Mal hervor, dass ein Friedensvertrag nur seiner Aufgabe gerecht wird, wenn er für beide Seiten ehrenhaft ist. Wer Rathenau wegen seiner Grundsätze und dem Rapallo-Vertrag kritisiert, der müsste dann den Vertrag von Versailles vom 11. November 1918, der noch das Niveau der Kolonialmächte des 19. Jahrhunderts repräsentierte, loben.

Die anderen sehen in Rathenau einen Kapitalisten, Ausbeuter, Patrioten und Kriegsfreiwilligen des Ersten Weltkrieges. Deutschland war vor 1914 eines der Länder mit stürmischter Industrie- und Technologieentwicklung, ähnlich dem Aufstieg Chinas in unserer Zeit. Das Britische Empire verlor beständig an Wirtschaftskraft. In den USA entwickelte sich vor allem die Quantität der Produktion.

Die adlige deutsche Funktionselite verstand jedoch die Welt nicht mehr. Dem Aufstieg der Sozialdemokratie als Kulturbewegung hatte man nichts entgegenzusetzen. Weder Verbot noch Sozialgesetzgebung konnten den Aufstieg bremsen. 1913 wurde die Sozialdemokratie stärkste Fraktion im Reichstag. Der Deutsche Kaiser unternahm derweil Orientreisen auf den Spuren der mittelalterlichen Herrscher. Gert Hofmann stellt diese Situation in seinem Hörspiel »Wie Kaiser Wilhelm mit Kara ben Nemsi auszog, um das Fürchten zu lernen« dramatisch zugespitzt dar.

Rathenau machte nie ein Hehl daraus, dass seine Familie zum Großbürgertum aufgestiegen war. Aber im Unterschied zu anderen Großbürgern fragte Rathenau nach den Folgen der Industrialisierung und Mechanisierung des gesamten Lebens. Aus seiner Feder stammen mehrere Reform-Vorschläge für das Deutsche Reich. Mehr als einmal zitiert Rathenau den Ausspruch König Friedrichs II.: Der König ist der erste Diener des Staates. Damit, so Rathenau, habe Friedrich II. den Staat entzaubert. Weder Staat noch König seien »mysthischen Ursprungs«, sondern der Staat sei eine Form der Organisation, die man mit den Mitteln der Erfahrung und der Wissenschaft auf die Höhe der Zeit heben müsse.

Als die deutsche »Blitzkriegführung«  bereits 1914 scheiterte und 1915 zu einem Zusammenbruch Deutschlands zu führen drohte, stellte sich Rathenau der Regierung zur Verfügung und baute ein System der Rohstoffversorgung in einer modernen Organisationsform auf. Danach trat er wieder aus der Behörde aus.

Walter Rathenau führte auf zeitgemäße Weise preußische Ideale weiter. Der Kauf von Schloss Freienwalde wurde zum Symbol der Lebenshaltung Rathenaus.

Foto: der Schweriner Dom

In seinem Buch »Von kommenden Dingen.« von 1916 verweist Rathenau in der Einleitung darauf, dass die aktuelle Weltentwicklung einerseits von der »Mechanisierung« geprägt werde und sich andererseits die Weltbevölkerung verzehnfacht habe. Es bedürfe einer neuen Denkweise, um mit diesen Voraussetzungen umgehen zu können. »Unsre Zeit, die das kleinste dessen, was sie Tatsachen nennt, so wichtig nimmt, erschrickt davor, aus ihrem Herzen ihr Geschick zu lesen; lenkt sie spielend und verantwortungslos bisweilen ihr Denken ins Künftige, so schafft sie aus umgekehrten Tagessorgen und Mißvergnüglichkeiten mechanische Utopien, die, vom Hermesstabe der Technik bewegt, aus der alten Wochenreihe einen kärglichen Sonntag zaubern.« (Walter Rathenau: Von kommenden Dingen. Gesammelte Schriften in fünf Bänden. S. Fischer Verlag, Berlin 1918, Bd. 3, S. 14)

Die Kapiteleinteilung lautet: 1. Das Ziel; 2. Der Weg; 2.1 Der Weg der Wirtschaft; 2.2 Der Weg der Sitte; 2.3 Der Weg des Willens.

Rathenau stellt die gegensätzlichen Interessen und Positionen heraus. Einerseits beschreibt er die vorherrschende Mechanisierung als einen Prozess, der abläuft, ohne dass die Menschen ihn gewünscht oder gewählt haben. Andererseits betont er, das diese Entwicklung eines Gegengewichtes in der menschlichen Seele bedürfe: »Daß Seeleneinrichtung des Lebens und Durchgeistung der mechanistischen Ordnung das blinde Spiel der Kräfte zum vollbewußten, freien und menschenwürdigen Kosmos gestaltet.« (S. 55).

Rathenaus Kritik richtet sich zunächst gegen die sozialdemokratischen Vorstellungen, wonach Politik, Idee, Geist nur ein Reflex der ökonomischen Entwicklung sei.

»Diese Strebung trägt den Fluch ihres Vaters, der nicht ein Prophet war, sondern ein Gelehrter, der sein Vertrauen setzte nicht in das menschliche Herz, dem alles wahre Weltgeschehen entspringt, sondern in die Wissenschaft.« (S. 72)

Rathenau meint, dass man mit der sozialdemokratischen Geschichtsauffassung keine aktive Politik betreiben könne. Aber gerade auf die aktive Wirkung, auf das Primat der Politik im Handeln, kommt es Rathenau an: »Jetzt, beim Beginn des zweiten Kriegsjahres, dämmert die Erkenntnis, daß alles Wirtschaftsleben auf dem Urgrund des Staates ruht, dass Staatspolitik der Geschäftlichkeit vorangeht, daß jeder, was er besitzt und kann, allen schuldet.« (S. 96).

In Kapitel 2.1 geht Rathenau auf den Weg der Wirtschaft ein. Er hebt hervor, dass die Industrie in erster Linie an sich selbst arbeite und keinen Nutzen für die Gesellschaft bringe (S. 89). Eine von den Sozialdemokraten geforderte Verstaatlichung löse dieses Problem aber nicht.

Dem Anschein nach musste sich Rathenau von der Sozialdemokratie abgrenzen, um keine Missverständnisse entstehen zu lassen, denn sein Gesellschaftmodell nennt er »Volksstaat«. Am Ende des Abschnittes heißt es programmatisch: »1. Produktion und Wohlstand des Landes müssen steigen, denn es wird Vergeudung ausgeschaltet, überflüssige Produktion auf nützliche Produktion umgestellt, Müßiggang beseitigt und jede verfügbare Kraft zu geistiger und materieller Produktion herangezogen, freier Wettbewerb und private Unternehmungslust erhalten, die Verantwortung in die Hände der sittlich und geistig Befähigten gelegt.

2. Die Ansammlung übermäßigen und toten Reichtums wird verhindert;

3. Die starre Gliederung der Stände wird verflüssigt; an die Stelle dauernd tragender und dauernd lastender Glieder tritt lebendige Bewegung und organisches Auf- und Niedersteigen;

4. Somit wächst die Macht des Staates, seine materielle Stärke und seine ausgleichende Kraft, und gleichzeitig entsteht ein gleichmäßiger mittlerer Wohlstand, der alle Stände durchdringt, Klassengegensätze ausgleicht und die Nation zur höchsten denkbaren Entfaltung ihrer geistigen und wirtschaftlichen Kräfte führt« (S. 161f.).

Foto: das Schweriner Schloss

Im Abschnitt »Der Weg des Willens« erwähnt Rathenau, dass er den Text am 31. Juli 1916, am Vorabend des zweiten Jahrestages des Kriegsbeginns schreibt. Nach allgemeiner Kritik am Krieg folgt: »Ich glaube nicht an unser Recht zur endgültigen Weltbestimmung – noch an irgend jemandes Recht dazu –, … Wir haben keinen Anspruch darauf, das Schicksal der Welt zu bestimmen, weil wir nicht gelernt haben, unser eigenes Schicksal zu bestimmen. Wir haben nicht das Recht, unser Denken und Fühlen den zivilisierten Nationen der Erde aufzuzwingen« (S. 236).

Über mehrere Seiten setzt sich Rathenau mit der erstarrten Tradition Deutschlands auseinender. Er hebt hervor, dass die Feudalordnung seit Ende des 18. Jahrhunderts, hier erwähnt er auch die »große französische Revolution«, durch den Aufstieg der ehemaligen »Unteren und Unfreien«, die heute den »Körper und die Kraft Europas bilden«, aufgelöst wurde, ohne dass das bislang eine politische Anerkennung gefunden habe (S. 248f.).

Rathenau unterscheidet zwischen Anlass und Ursache des Ersten Weltkrieges: »Der Krieg dessen Ursachen heute noch durch populäre Hinweise auf nebenseitige Auslösungsmomente abgetan werden (S. 360).

Als Kriegsursachen benennte er: »Nationalismus und Imperialismus sind Zeittendenzen. Aber sie beherrschen das politische Denken, mehr noch das Empfinden der Epoche vollkommen, sie haben als inneres Moment den gegenwärtigen Krieg vorbereitet und heraufgeführt, sie haben als Rüstungsgedanken die Staaten in Spannung gehalten, als Konkurrenzgedanken jeden herrschenden Gegensatz zwischen Ebenbürtigen vertieft, und sie werden nach dem Krieg erst zu ihrem Höhepunkt aufsteigen.« (S. 237f.).

Am Ende des Buches erinnert Rathenau nocheinmal an die selbst gestellte Aufgabe: »Von der gewaltigsten Bewegung unserer planetaren Menschheit sind wir getragen, der mechanistischen. Ihre Anfänge wurden verspürt, wo immer vor Jahrtausenden in wassereichen Niederungen, an Küsten und Flußläufen das menschliche Geschlecht seßhaft wurde und zu Myriaden sich verdichtete, sei es am Euphrat, am Nil, am Mittelbecken oder Ostasien. (S. 362) … In der Weltarena der Mechanisierung leben wir: als Naturkampf hat sie ihren Höhepunkt noch nicht erreicht, als Geistes­epoche hat sie ihn überschritten, denn sie ist bewußt geworden… Aller menschlichen Kräfte hat Mechanisierung sich bemächtigt, allen Denkens und aller Tätigkeit. Um sich selbst zu schaffen hat sie Wissenschaft und intellektuale Philosophie gebildet, um sich zu erhalten bedarf sie der Technik, des Verkehrs, der Organisation und der Politik … Doch das Denken selbst, die riesenhafte, gebunde Macht der Erde, bricht über seinen zweckhaften Willen hinaus und ringt um Freiheit. Es erkennt die notwendige Gewalt der Mechanisierung, die im Physischen liegt, und begreift ihre transzendente Armut. Es erblickt die intuitive Macht der schauenden Seele, erkennt ihre weltvernichtende Einheit und erschrickt nicht vor dem Opfer seiner selbst.

Der Naturkampf der Mechanisierung ist ein Menschheitskampf. Alles frühere Streben war das Werk des Einen, des Geschlechts, der Kaste, des Stammes; so wurde Tierheit und Widlheit, Boden und Meeresfläche bezwungen. Der Gesamtkampf der menschlichen und natürlichen Gewalten aber schließt jedes menschliche Dasein und Wesen ein; der planetare Geist kämpft als Einheit.

Doch so wahr wir wissen, daß die erwachende Seele das göttliche Heiligtum ist, für das wir leben und einstehen, daß Liebe die Erlöserkraft ist, die unser innerstes Gut befreit und uns zur höhern Einheit verschmilzt, so unbeirrt erkennen wir in dem unentrinnbaren Weltkampf der Mechanisierung das eine Wesentliche: den Willen zur Einheit. Indem wir der Mechanisierung das Zeichen entgegenhalten, vor dem sie erblaßt, die transzendente Weltanschauung, die sie bei allem Aufgebot intellektualer Philosophie zu verdunkeln wußte, die Andacht zur Seele, den Glauben zum Absoluten; indem wir ihr Wesen durchleuchten und zum verheimlichten Kern des Einheitswillens hinandringen, ist sie entthront von der Herrschaft und zum Dienst gezwungen … Wir sind nicht da um des Besitzes willen, nicht um der Macht willen, auch nicht um des Glückes willen; sondern wir sind da zur Verklärung des Göttlichen aus menschlichen Geiste.« (S. 362–366)

Foto: das Schweriner Schleswig-Holstein-Haus

Walther Rathenau entwickelte also nicht nur ein Reformprogramm für einen Staat mit viel sozialer Mobiltät und wenig »totem Reichtum«, er schloss in das Reformprogramm auch die menschliche Seele als Gegengewicht zur Mechanisierung ein.

An einigen Stellen nennt Rathenau Buddha, Plato, Christus, Leonardo da Vinci und Goethe als Orientierungspunkte der Bildung zur Humanität. An anderer Stelle betont er, dass wir unsere Seele nur selbst stärken können, dass uns das keine Institution abnehmen kann, auch keine Kirche.

Die Verbindung der Gegensätze von Mechanisierung und Seele entspricht der generellen Methode Rathenaus. Er wusste, dass man wesentliche Gegensätze nicht ignorieren oder beseitigen kann, dass sie allerdings die Entwicklung vorantreiben. Auch die Gegensätze der Klassen und Schichten im deutschen Staat wollte er so verbinden, dass sie sich ausgeglichen bewegen können. Dieses Verfahren kostet Kraft, denn man muss die Gegensätze aushalten, und es bringt in der Regel die Feindschaft der beiden beschränkten Seiten ein. Dennoch nahm Rathenau dieses Schicksal auf sich. Seine Motivation wird vielleicht aus folgendem Passus erkennbar: »Das Evangelium wäre sterblich, wenn es als abstraktes Gesetz auf Pergament stände, und kehrte sein Verkünder wieder, so würde er nicht wie ein studierter Pastor in antiquarischer Sprache mit syrischen Gleichnissen reden, sondern von Politik und Sozialismus, von Industrie und Wirtschaft, von Forschung und Technik, freilich nicht als ein Reporter, dem diese Dinge an sich erfüllt und stupend sind, sondern den Blick auf das Gesetz der Sterne gerichtet, dem unsere Herzen gehorchen.« (S. 63).

Walther Rathenau, der Verkünder, der das Evangelium weiter und neu erzählte, hatte seinen Blick auf die Sterne gerichtet. Gerade deshalb vermochte er 1916 Reformvorschläge vorzulegen, die erst nach 1945 in Europa teilweise in Angriff genommen wurden, aber selbst da nur auf die wirtschaftliche Seite beschränkt blieben. Heute sind die Defizite der »rein wirtschaftlich« geprägten Sicht auf den Staat und die Europäische Union unübersehbar. Gerade heute bedürfte es aber der Einsicht Rathenaus: Die Automatisierung ist eine unentrinnbare physische Macht, doch die Künstliche Intelligenz (KI) hat keine Seele, ist zu transzendenter Armut verurteilt.

Wir starren wie gebannt auf die Prognosen, dass 90 oder 95 Prozent der bisherigen Arbeitsplätze überflüssig werden. Die wenigen, die in die Zukunft blicken, bringen es lediglich zu »mechanistischen Utopien«, die vor der KI kapitulieren.

Am Ende steht die Frage: Wo sind die Politiker, die die Gegensätze von Automatisierung, der heutigen Gestalt von Vernunft, und der menschlichen Seele, des existenziellen Glaubens, in einer zeitgemäßen Form so zu vereinigen vermögen, dass die globalen Probleme der Menschheit gelöst werden können?

Dem Autor Eberhard Görner und dem Veranstalter, der Rosa-Luxemburg-Stiftung Mecklenburg-Vorpommern, ist für die anregende Veranstaltung zu danken.

Johannes Eichenthal

 

Information

Görner, Eberhard: Von kommenden Dingen. Walther Rathenau in Freienwalde. DVD 2011 (über die Tourismus GmbH Bad Freienwalde erhältlich).

www.schloss-freienwalde.de

Antiquarisch erhältlich

Rathenau, Walter: Von kommenden Dingen. Gesammelte Schriften in fünf Bänden. S. Fischer Verlag, Berlin 1918

Rathenau, Walther: Briefe. Zwei Bände und ein Ergänzungsband. Carl Reissner Verlag Dresden 1926/27.

Eine Walter-Rathenau-Gesamtausgabe in 6 Bänden ist im Verlag Lambert Schneider 1977ff erschienen.

Eine weitere Walter-Rathenau-Gesamtausgabe hat der Droste Verlag Düsseldorf 2015 begonnen. Bisher erschien Bd. 1,  Schriften der Wilhelminischen Zeit. 1885–1914.

Müller, Rolf-Dieter: Der Feind steht im Osten. Hitlers geheime Pläne für einen Krieg gegen die UdSSR im Jahr 1939. Christoph-Links-Verlag 2011. ISBN 978-3-86153-617-8

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