Sehr geehrter Herr Eichenthal, welche Neuerscheinungen stellt der Mironde Verlag zur diesjährigen Buchmesse in Leipzig vor?
Johannes Eichenthal: Ich möchte hier zunächst unser Jahrbuch nennen, weil damit das Verlagskonzept deutlich gemacht wird. Wir dokumentieren mit dem Jahrbuch unsere Verlagstagung vom September 2017, mit dem Titel »Naturkreislauf, Technik und Poesie«, in der wir Literaten, Bildende Künstler, Techniker, Architekten und Philosophen zusammenbrachten.
Ich habe mir das Jahrbuch angesehen. Verwirren Sie nicht den Leser mit einer derartigen Vielfalt an Themen? Gibt es in unserer Zeit nicht den »Megatrend« zur Spezialisierung? Will sich der Mironde Verlag nicht endlich auch spezialisieren?
Johannes Eichenthal: Wir sehen auch, dass in vielen Bereichen dem technischen Druck zur Einbahnstraße nachgegeben wird. Seit Jahrzehnten wird Bildung bereits auf Spezialwissen reduziert. Doch die Folgen sind verheerend: Zum Beispiel strebt das universitäre System in Folge ständiger Neugründung von Disziplinen mit »Alleinstellungsmerkmal« in großem Tempo auseinander. Auch deshalb wird der Ruf nach dem allgemeinen Zusammenhang wieder erhoben. Komplizierte transdisziplinäre Prozesse, wie der Übergang vom dokumentgestützten Planen, Bauen und Betreiben zum digitalmodellgestützten Planen, Bauen und Betreiben, bedingen den Blick auf allgemeine Zusammenhänge, wenn man nicht von der Technik beherrscht werden will.
Gut, das ist nachvollziehbar. Aber gehen Sie nicht etwas zu weit, wenn Sie in ein solches Jahrbuch auch einen sehr langen Artikel zu diesem völlig vergessenen Theologen Herder aufnehmen. Wer soll soetwas denn in unserer modernen Zeit lesen?
Johannes Eichenthal: In der Einleitung des Bandes finden Sie auch die Thesen zur Verlagstagung. Wir versuchten den Ansatz von den »Grenzen des Wachstums« kritisch weiterzuführen. Dadurch kamen wir auf das Tagungsthema: »Naturkreislauf, Technik und Poesie«. Die Ideologie des Wachstums, des Ausdifferenzierens und des Fortschritts unserer Gesellschaft führte uns in eine Sackgasse. Angesichts von Überkompliziertheit und Überspezialisierung muss man heute von »inneren Grenzen des Wachstums« sprechen. Die Rede von der »Komplexität« ist nur das Eingeständnis der Unüberschaubarkeit und der Handlungsunfähigkeit. Hektischer Scheinaktivismus in Wirtschaft und Politik, die Neigung zur Flucht in Konflikte, soll diese Fehlleistungen kompensieren. Die Menschheit steht aber vor einer Kehre zur Dekonstruktion der Industriegesellschaft. Die Aneignung des Erbes Johann Gottfried Herders ist aus unserer Sicht für einen zivilisierten Verlauf dieser Kehre unverzichtbar. Deshalb veröffentlichte ich unter dem Titel »Skepsis und Hoffnung« eine kleine Einführung in sein Leben und Werk.
Aber dieser Herder lebte von 1744 bis 1803, seine Theorie ist vormodern. Was soll uns ein solcher Mann heute noch sagen?
Johannes Eichenthal: Was ist heute noch »modern«? Wir leben alle auf den Schultern unserer Vorfahren, auch wenn wir das nicht wissen oder nicht wahrhaben wollen. Konservation und Innovation bedingen einander. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Der britische Philosoph John Locke prägte in der Auseinandersetzung mit René Descartes den Satz: »Nichts ist in unserem Verstand, was nicht vorher in den Sinnen war.« Gottfried Wilhelm Leibniz führte den Gedanken weiter und entgegnete: »Außer dem Verstand selbst!« Darauf baute Herder auf und brachte etwas Neues hervor: Verstand und Sprache waren für ihn keine getrennten Stufen der Erkenntnis mehr, sondern der innere Zusammenhang unserer Sinneswahrnehmungen. Alle Sinne liefern Informationen. Verstand/Vernunft/Sprache erzeugen ein inneres Bild, das über das hinausgeht, was unsere Augen liefern. Mit der Sprache können wir Sinneswahrnehmungen bezeichnen und wieder aufrufen. In dieser Sprachfähigkeit unterscheiden wir uns von den Tieren. Wir wollen die philosophische Kontroverse Herders mit Immanuel Kant, der mit »reiner Vernunft«, ohne Sinne und Sprache, Erkenntnisse vor aller Erfahrung gewinnen wollte, einmal beiseite lassen. Herder war seinerzeit auch für das Weimarer Schulwesen verantwortlich. Er entwickelte pädagogische Konzepte. Für die unteren Schulklassen sah er sinnliche Erfahrungen mit der Natur als Hauptziel an. Die Kinder müssen nicht nur lesen, schreiben und rechnen, sondern auch sehen, hören, riechen, schmecken, tasten, zeichnen, sich bewegen; sie brauchen Erfahrungen. Abstraktionen, so Herder, hätten erst in höheren Klassen überhaupt einen Sinn. Der Umgang mit Sprache befähigt die Kinder innere Bilder aufzubauen, das heißt Phantasie zu entwickeln.
Aber widerspricht das nicht völlig unseren modernen Vorstellungen? Heute versucht man doch bereits Kleinkinder an Bildschirme zu gewöhnen, das Computerprogrammieren im Kindergarten und in der Grundschule einzuführen und die Handschrift in der Schule durch die Tastaturschrift zu ersetzen, also Sprache und Handschrift abzuschaffen?
Johannes Eichenthal: Bereits der Fernsehbildschirm wirkte verhängnisvoll auf unsere Bildung, indem er die Fähigkeit zum Aufbau innerer Bilder vor allem bei Kindern und älteren Menschen zerstörte. Der Computerbildschirm potenziert den Schaden, weil er zusätzlich mit der Illusion verbunden ist, dass »Digitalisierung« keiner Erfahrungen mehr bedürfe, ähnlich den Vorstellungen Kants. Konzepte, die auf solchen Illusionen aufbauen, werden katastrophal scheitern. Doch unsere Welt befindet sich am Beginn tiefgreifender Umbrüche. Katastrophen sind in niemandes Interesse. Der Mironde Verlag versucht einen wechselseitigen Lernprozess zwischen Literaten, Bildenden Künstlern, Technikern, Architekten und Philosophen zu ermöglichen, um den Herausforderungen unserer Zeit mit Poesie begegnen zu können.
Gut. Welche Bücher stellt der Mironde Verlag in Leipzig in besonderen Veranstaltungen vor?
Johannes Eichenthal: Zunächst das Jahrbuch. Der Verleger wird aufgrund der herausragenden Bedeutung des Phosphor-Rückgewinnungs-Pilotprojektes im Klärwerk Niederfrohna im Gespräch mit den Autoren des Jahrbuch-Artikels, Prof. Dr.-Ing. Karin Heinrich und Dr.-Ing. Steffen Heinrich, versuchen, das Verfahren allgemeinverständlich darzustellen. Der Verbandsvorsitzende des ZV Frohnbach, Bürgermeister Klaus Kertzscher, wird den Hintergrund der Baumaßnahmen im Klärwerk Niederfrohna erläutern, die die Voraussetzungen für die Aufnahme des Dauerbetriebes der praktischen Phosphorrückgewinnung zur Bewahrung des regionalen Naturkreislaufes schaffen.
Johannes Eichenthal: Am Freitag, dem 16. März, wird Frieder Bach auf die Neuauflage seines Buchs »Fahrzeugspuren. Teil 1.« eingehen, das Anfang Mai erscheinen und am 17.5. im Sächsischen Fahrzeugmuseum in Chemnitz vorgestellt werden soll. Im Spätsommer soll dann der dritte Teil der Fahrzeugspuren erscheinen, der sich mit dem Rennsport von 1900 bis 1990 in der Region Chemnitz befassen soll. Auch dazu wird Frieder Bach Details nennen.
Johannes Eichenthal: Am Sonntag, dem 18. März, stellen wir die Lebenserinnerungen des gebürtigen Chemnitzers Franz Cohn vor. Der Autor begeht in Stockholm an diesem Tag seinen 91. Geburtstag. Herausgeber Eberhard Görner wird uns in Vertretung des Autors erzählen, wie und warum es zu diesem Buch kam.
Sehr geehrter Herr Eichenthal, vielen Dank für das Gespräch und die Informationen.
Clara Schwarzenwald