Reportagen

LITERARISCHE WANDERUNG NACH HALLE

Der 21. September war ein schöner Spätsommertag. Auf der Saale trainierten am Abend die Ruderer mit großem Einsatz. Am romantischen Hallenser Saaleufer füllten sich die Gaststätten. Die Burgruine Giebichenstein erstrahlte im Abendlicht und Joseph von Eichendorffs Denkmal erinnerte daran, dass man in der Saale einst selbstverständlich badete. In der Franckeschen Stiftung kamen im Neubauer-Saal Interessierte zusammen, um einem Text-Bild-Vortrag einer „Literarischen Wanderung durch Mitteldeutschland“ zu folgen. 

Pfarrer Sven Hanson vom Canstein-Bibelzentrum des Mitteldeutschen Bibelwerkes begrüßte den Moderator Prof. Eberhard Görner und den Referenten Dr. Andreas Eichler vom Mironde-Verlag, der die beiden Bände der „Literarischen Wanderung durch Mitteldeutschland“ vorstellte. 

Titel des ersten Bandes

Eichler, der auch den Autor Johannes Eichenthal vertreten musste, hatte den Vortrag unter das Motto „Alternatives Wandern“ gestellt. Er hob hervor, dass die Philosophie trotz aller Katastrophen und Trümmer, mit denen die Geschichte erscheine, die Aufgabe habe, den Geist der Überlieferung verständlich zu machen. Am Beispiel einer Karte stellte er „Mitteldeutschland“, die Region zwischen Braunschweig und Görlitz, im Schnittpunkt alter transkontinentaler Handelswege vor. 

Rückentitel des ersten Bandes

Nach Johann Gottfried Herder (1744–1803) ging er davon aus, dass die menschliche Disposition in der bezeichnenden Sprache zu finden ist. Die grundlegende Form der sprachlich-literarischen Überlieferung, so Eichler, sei das Epos. Um 1200 sei durch Dialektausgleich zwischen niederdeutschen, oberdeutschen und slawischen Dialekten in der Region das Mittelhochdeutsch entstanden. Die Erneuerung der Sprache habe zur Erneuerung des Denkens geführt. In der Folge seien fast alle Erneuerungsbewegungen in der deutschen Geschichte in Mitteldeutschland entstanden. Die Erneuerungsfähigkeit gehöre seither zur regionalen Kultur, zur mitteldeutschen Mentalität.

Titel des zweiten Bandes

Mit Herder gehe er von einer weiten Literaturauffassung aus, die neben Lyrik und Prosa auch Naturwissenschaft, Technik, Medizin, Theologie u.a. umfasse. Den Prozess wolle man mit der Darstellung von Personen und Zusammenhängen fassbar machen. Eine biographische Einleitung, ein Stadtplan, zahlreiche Fotos von den Wirkungsorten, eine Einführung in einen Originaltext und eine Zusammenfassung bildeten die Struktur der beiden bisher vorliegenden Bände der Literarischen Wanderung.

Rückentitel des zweiten Bandes

Im Anschluss bot Eichler mit einer kleinen Auswahl einen Überblick aus der Reihe der Autorinnen und Autoren der ersten beiden Bände. Bei Hermann Gunkel (1862–1932) und Halle verweilte er etwas länger.

Hermann Gunkel stamme aus einem Pfarrhaus in Springe. Nach dem Gymnasiumsbesuch studierte er Theologie in Göttingen und Gießen. In Göttingen nahm er an einem Diskussionskreis teil, der „die kleine Fakultät“ genannt wurde. Aus diesem Kreis ging die Religionsgeschichtliche Schule hervor. Später schrieb Gunkel: „Religionsgeschichte ist die Wissenschaft von der Mannigfaltigkeit der Religionen“ mit einer „geschichtlich, kritischen, vergleichenden Methode“. Die Texte des Alten Testaments und des Neuen Testaments vermochte Gunkel mit den Methoden der Literatur- und Sprachwissenschaft zu erschließen. Erst damit war der poetische Charakter der biblischen Überlieferung, das Sagen des Unsagbaren, verstehbar zu machen. Verfasserschaft und Entstehungszeit der Texte wurden nachvollziehbar. Lediglich in einzelnen Momenten wirkte sich die Nähe zur „vergleichenden“ Literaturwissenschaft nachteilig aus. Etwa wenn Gunkel mitunter die „Textsorten“ Märchen, Sagen, Legenden einfach aufzählte, obwohl er deren inneren Zusammenhang im Epos eigentlich kannte. Herder war davon ausgegangen, dass Mythos/Fabel (= Erzählung) den Kern des Epos darstellen. Heute würde man das „Plot“ nennen.

Gunkel wurde 1888 in Göttingen promoviert und habilitierte sich dort im gleichen Jahr. Auf Wunsch des preußischen Ministerialdirektors Friedrich Althoff (1839–1908) ließ sich Gunkel 1889 zur Exegese des Alten Testaments nach Halle umhabilitieren.

In Halle versagte man Gunkel Vorlesungen in Biblischer Theologie und Exegese. Dennoch wurde er vom Kultusminister 1894 zum außerordentlichen Professor berufen. Jedoch folgte er bereits 1895 einem Ruf auf eine außerordentliche Professur für Altes Testament nach Berlin. Dort arbeitet er fruchtbar mit seinem Kollegen Hugo Greßmann (1877–1927) zusammen. 1901 waren beide Mitherausgeber des Göttinger Handkommentars zum Alten Testament. Gunkels Genesis-Kommentar gilt als einer der besten des 20. Jahrhunderts und ist für den interessierten Leser noch heute ein großer Gewinn. Im Vorwort zur dritten Auflage schrieb Gunkel 1910, dass er an der Testamentsvollstreckung des großen Herder arbeite. 1907 erfolgte endlich die Berufung Gunkels auf eine ordentliche Professur in Gießen. Sein Nachfolger in Berlin wurde Hugo Greßmann.

In Gießen arbeitete Gunkel als Mitherausgeber des Lexikons „Religion in Geschichte und Gegenwart“ (RGG), dessen Erstauflage zwischen 1909 und 1913 erschien. Von Gunkel stammten 300 Artikel. 1920 berief der preußische Kultusminister, der studierte Orientalist Carl Heinrich Becker (1876–1933), Gunkel nocheinmal nach Halle. Gunkel arbeitet an der zweiten Auflage des Lexikons RGG. Mit der Hervorhebung des historischen Zusammenhangs der besonderen Religionen schufen die Herausgeber des RGG eine Grundlage für die Verständigung der Religionen und letztlich für einen von den Religionen anzustrebenden Frieden im Glauben (Nikolaus von Kues) als Grundlage eines Weltfriedens. Die von der Religionsgeschichtlichen Schule gewonnen editorischen Standards erleichterten fortan auch Nachbardisziplinen und theologischen Laien den Zugang zu den über Jahrtausende mündlich und schriftlich überlieferten Texten.

Hermann Gunkel verstarb am 11. März 1932 in Halle

Aus Anlass seines 150. Geburtstages fand 2012 ein wissenschaftliches Kolloquium statt. Rudolf Smend, Konrad Hammann, Ernst Joachim Waschke, Stefan Schorch und Udo Schnelle erinnerten mit Beiträgen an Leben und Werk Gunkels. Die Beiträge wurden 2013 veröffentlicht. Hrsg.: Ernst Joachim Waschke: Hermann Gunkel (1862–1932) Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH. Neukirchen-Vluyn 2013, ISBN 978-3-7887-2719-2 (Print) 978-3-7887-2720-8 (ebook).

Prof. Eberhard Görner ermöglichte durch seine Fragen, dass Eichler dem Publikum Zusammenhänge und Schwerpunkte nocheinmal verdeutlichte. Pfarrer Sven Hanson öffnete im Anschluss die Diskussion und bezog das Publikum ein.

Schließlich dankte Pfarrer Sven Hanson dem Moderator und dem Autor für ihr Engagement an diesem Abend.

Das Eichendorff-Denkmal am Saaleufer

Kommentar

Von Rudolf Smend wissen wir, dass sich Hermann Gunkel fast immer beleidigt fühlte, weil seine wissenschaftliche Leistung von etablierten Kollegen nicht anerkannt wurde, bis hin zum Vorlesungsverbot in seiner ersten Hallenser Zeit. Aber einerseits wurde ihm die Freundschaft mit Hugo Greßmann und vielen Kollegen geschenkt, die am Monumentalwerk RGG mitarbeiteten. Andererseits gab es noch einen Kultusminister, der über strategischen Weitblick verfügte und ihn gegen alle Widerstände berief. 

Johann Gottfried Herder wurde von Christian Gottlob Heyne (1729–1812) gedrängt, sich zwei Mal für eine Professur in Göttingen zu bewerben. Beide Bewerbungen wurden von der Theologischen Fakultät mit dem Vorwurf der Heterodoxie Herders, also der Abweichung vom „einzig wahren Glauben“, abgelehnt.

Herder fühlte sich ebenfalls oft beleidigt. Aber gleichzeitig sah Herder, dass die Institution „Universität“ den Anforderungen der Zeit nicht mehr gerecht werden konnte. Von der „fabrikmäßigen Ausbildung von Staatsbeamten“ sei gerade in der Philosophie nichts zu erwarten. Die Philosophie habe bei Liebhabern, in Akademien und Sozietäten ihre Heimat. Letztlich werde jeder Mensch seine eigene Philosophie und seinen eigenen Glauben haben, weil es bei der Überlieferung letztlich um die Anwendung des Wissens unter unseren besonderen Lebensbedingungen geht.

Gleichzeitig muss man konstatieren, dass die Beharrungskräfte des „Wissenschaftsbetriebes“ immer noch dominieren. Im Jahr 2004 fand eine Diskussion zwischen dem emeritierten Soziologie-Professor Jürgen Habermas und dem damaligen Kardinal Joseph Ratzinger in München statt. Ratzinger musste gegen den Mainstream darauf verweisen, dass weder die okzidentale Rationalität noch das Christentum „universalen“ Charakter besitzen, dass es sich um eine besondere Kultur handelt, wie andere auch. Die Erfahrung der Weisheit gebiete, sich nicht in andere Religionen und Kulturen einzumischen. Deshalb könne es nur um eine verstehende Annäherung unserer Vorstellung von Schöpfung zum Beispiel an das „Dharma“ in Indien oder die „Ordnung des Himmels“ in China gehen. (An den 15. Jahrestag der Diskussion erinnerte Johannes Eichenthal: https://www.mironde.com/litterata/8260/rezension/der-philosoph)

Das Lebenswerk Hermann Gunkels und seiner Mitstreiter kann uns dabei helfen, den geistigen Aufgaben der Gegenwart und Zukunft gerecht zu werden.

Clara Schwarzenwald

Information

Lieferbar sind Band 1 und 2 der Literarischen Wanderungen durch Mitteldeutschland:

https://buchversand.mironde.com/p/literarische-wanderung-durch-mitteldeutschland-von-den-minnesaengern-bis-herder-sprache-eigensinn1

https://buchversand.mironde.com/p/literarische-wanderung-durch-mitteldeutschland-von-goethe-bis-rathenau-sprache-eigensinn-2-1

Der Band 3 ist für 2024 ist angekündigt

https://buchversand.mironde.com/p/literarische-wanderung-durch-mitteldeutschland-sprache-und-eigensinn-3-von-landauer-bis-gunderman

Die Litterata – Technik und Poesie in Mitteleuropa – ist ein Feuilleton des Mironde Verlags (www.mironde.com) und des Freundeskreises Gert Hofmann.

One thought on “LITERARISCHE WANDERUNG NACH HALLE

  1. Gern wäre ich zur Buchvorstellung nach Halle in die Franckeschen Stiftungen gekommen. Jedoch, ich war zu müde von der Tages Müh. Herzliche Grüße, Karin

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