Rezension

WISSENSCHAFTSGESCHICHTE ERWANDERN

Sehr geehrte Damen und Herren,

wir veröffentlichen einen Gastbeitrag von Prof. Dr. Reiner Neubert.

Johannes Eichenthal

Der Philosoph und Verleger Dr. Andreas Eichler hat wieder einmal ein Buch verfasst. Es ist schwergewichtig in mehrerlei Hinsicht. Gemeinsam mit seiner Frau Birgit Eichler, die das Gestaltungskonzept verantwortete, schuf er ein Kompendium, das Bereiche der Geschichte von Philosophie, Kunst, Literatur und Sprache vom Mittelalter bis zum Ende des 18. Jahrhunderts anschaulich ausbreitet. Und Leser und Betrachter neugierig macht. Für mich wurden während der Lektüre viele Details und Episoden wieder aufgefrischt, die ich in der Zeit meines Studiums der Literaturgeschichte in den Vorlesungen in Zwickau und Leipzig wahrgenommen hatte. Meine mittlerweile ausgeprägte Besonnenheit, die über den sich entwickelnden Eigensinn in der Sprache zustande kam, zeigt Früchte: derart, wie es J. G. Herder, der Weise von Weimar, voraussagte.
Denn mit dieser schillernden Persönlichkeit endet der erste Teil des vorliegenden Buches, der mit den Minnesängern H. v. Veldeke, W. v. Eschenbach und W. v. d. Vogelweide beginnt. Eichler vermittelt einen Dialog der Kulturen, indem er mit dem geneigten Leser vor allem durch die mitteldeutsche Literaturlandschaft streift, insgesamt 22 Persönlichkeiten in ihrem privaten und gesellschaftlichen Umfeld aufspürt, ihre originellen Beiträge zur Sprach- und Literaturentwicklung benennt und dann kommentiert. Dabei werden markante Schaffensorte ins Gedächtnis zurück gerufen, die – bis auf wenige Ausnahmen – den Stellenwert Mitteldeutschlands in der Erneuerungsbewegung der Wissenschaft und Kultur Deutschlands verdeutlichen. Von der Wartburg und der Neuenburg spannt sich der Bogen über Erfurt, Eisenach, Leipzig, Zwickau, Kamenz, Zschopau bis nach Weimar.


Foto: Prof. Dr. Reiner Neubert vor dem Robert-Schumann-Denkmal seiner Heimatstadt Zwickau.

Die Komposition des Buches ist dem entsprechend. Stets bilden einzelne Biografien den Ausgangspunkt. Anschließend wird ein für wichtig erachtetes Werk im Originaltext vorgestellt und erörtert, und am Ende erfolgt jeweils eine Zusammenfassung unter dem Aspekt »Was bleibt?«. So lernen wir Meister Eckhart, M. Luther, Th. Müntzer, P. Fleming, G. W. Leibnitz, Ch. Thomasius, J. S. Bach, C. Neuber, G. E. Lessing wieder kennen, aber zusätzlich noch M. v. Magdeburg, den sagenumwobenen »Frankfurter«, V. Weigel, J. Böhme, E. W. v. Tschirnhaus, J. G. Schnabel u. a., und Eichler gelingt es dabei, die Bezugsebenen zwischen all den Genannten punktuell und als Wissenschaftslinien zu verdeutlichen.
Beispiele? M. Luther schätzte den »Frankfurter« und führte Positionen von Meister Eckhart weiter. Weigel, Pfarrer in Zschopau, galt als Ketzer, aber er berief sich auf Elemente der Werke von Eckhart, Luther und Müntzer und mutierte so zum Vorläufer der Ideengebäude von Leibnitz, Thomasius und Herder. Der relativ unbekannte J. Böhme entwickelte der Auffassungen von Weigel weiter, und beide wurden erst später von Herder wieder aufgegriffen, aber sie durften von ihm nicht namentlich genannt werden, weil sie zeitweilig als Ketzer galten. Leibnitz hat Paul Fleming als »deutschen Horaz« hochstilisiert. Und Thomasius knüpfte an Wertungen von Eckhart, Luther Weigel und Müntzer an, weswegen er von Herder dann höher gehoben wurde.
Dass bspw. der Tonschöpfer J. S. Bach ausführlich dargestellt und sein Weihnachtsoratorium als bleibende Dichtung wertgeschätzt wird, vermag den naiven Leser zu erstaunen, aber er wird angeregt, über Tradition und das Verhältnis von Sprache und Musik neu nachzudenken. Und dass Caroline Neuber nicht nur Prinzipalin einer Schauspiel-Truppe war, sondern mit eigenen Texten auch die sprachliche Entwicklung der Literatur jener Zeit im Streit und Einklang mit Gottsched und Lessing beeinflusste, lässt sie in einem neuen Licht erscheinen.
Beeindruckend sind die zugehörigen aktuellen Fotos von Denkmalen, Tafeln, Wohnorten und -häusern, Kirchen, Bibliotheken als Wirkungsstätten der vorgestellten Künstler und Wissenschaftler. Jedes Kapitel beginnt gleichsam mit einem Kartenauszug, auf dem man in den ausgewiesenen Orten jene Stätten findet, gewissermaßen als Vorschlag der Herausgeber für einen möglichen Besuch, wobei das vorliegende Kompendium als Begleitbuch für einen Wanderrucksack jedoch zu schwer sein dürfte.
Natürlich nimmt J. G. Herder (1744–1803) am Ende den breitesten Raum ein, sein vielfältiges Wirken in Weimar, seine unzähligen Bekanntschaften mit gleichzeitig lebenden Größen der Geisteswelt, seine verständlichen Auseinandersetzungen mit den Schriften seiner Vorgänger, sein inniger Disput mit dem pantheistischen Philosophen Spinoza sowie seine vorgelebten Werte des Selbstbewusstseins, der Besonnenheit und der Selbstbeschränkung. Das sollte bleiben!
Blätternd wandern und Geschichte erleben; eine bibliophile Kostbarkeit.
Auf Band 2 dürfen wir gespannt sein.
Reiner Neubert

Bestellmöglichkeit: http://buchversand.mironde.com/epages/es919510.sf/de_DE/?ObjectPath=/Shops/es919510/Products/9783960630258

Information
Andreas Eichler: Von den Minnesängern bis Herder. Sprache und Eigensinn. 23,0 × 23,0 cm, 320 Seiten, fester Einband, zahlreiche Abbildungen. VP 29,90 €
ISBN 978-3-96063-025-8

Der zweite Teil soll die Zeit von Herder bis zum Ende des 20. Jahrhunderts umfassen.

Die Litterata – Technik und Poesie in Mitteleuropa – ist ein Feuilleton des Mironde Verlags (www.mironde.com) und des Freundeskreises Gert Hofmann.

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