Reportagen

AUF DEN SPUREN HERDERS

Der 16. Mai war ein kalter Frühlingstag mit wolkenverhangenem Himmel. Am frühen Morgen machten sich 22 interessierter Menschen aus Limbach-Oberfrohna mit einem Bus auf den Weg nach Weimar, um herauszufinden, wer Johann Gottfried Herder (1744–1803) war. Peter Siegel vom Verein „L.O.s geht’s“ hatte die Bildungsreise organisiert. Der in Ostpreußen geborene Johann Gottfried Herder kam 1776 als Generalsuperintendent nach Weimar und wirkte bis zu seinem frühen Tod im Jahre 1803. Vermittelt hatte diese Berufung Johann Wolfgang Goethe. Befreundet war Herder von Anfang an mit Christoph Martin Wieland. Zwischen 1770 und 1830 wirkten mehrere Geistesgrößen in Weimar. Obwohl die Beziehungen der Genies nicht ohne Konflikte blieben, mitunter wehte ein raues Lüftchen durch die Gassen, brachte das kleine Herzogtum in seiner Gänze die Kulturstaatsidee zur Welt.

Die Herder-Kirche in Weimar

Bei der Ankunft in Weimar war der Himmel grau, es blieb jedoch trocken. In der Mitte des 13. Jahrhunderts errichteten Weimarer Herder-Kirche, nur noch unbelehrbare Kantianer nennen sie St.-Peter-und-Paul, erhielt die kleine Reisegruppe eine erste Führung, vorbei an der Grabplatte Herders – mit dem Siegelringmotiv Benedikt Spinozas –, hin zum Lucas-Cranach-Altar mit einem Bekenntnis zu Luther und zur Reformation, und einem abschließenden Orgel-Intermezzo. Herder war bei der Weimarer Bevölkerung beliebt. Er nahm die Gläubigen ernst. Der Inhalt seiner Predigten entsprach auch dem seiner wissenschaftlichen Publikationen. Theologie hatte er studiert, um, wie er später sagte, die Bibel begreifen zu können. In mehrern Büchern untersuchte er die Überlieferung der biblischen Texte: „Vom Geist der ebräischen Poesie“, „Die älteste Urkunde des Menschengeschlechts“ u.a.) Insgesamt entstand in der Herder-Kirche ein Bild von Herder als einem guten Seelsorger.

Eingang des Goethe-Schiller-Archivs

Eine zweite Station war das 1885 als Goethe-Archiv errichtete und 1889 zum Goethe-Schiller-Archiv umbenannte Gebäude, in dem auch Nachlasteile und Handschriften Herders aufbewahrt werden. In einer Führung wurde der Gruppe Räumlichkeiten und Grundsätze der Sammlungstätigkeit vermittelt. Noch immer ist die historisch-kritische Herder-Werkausgabe (SWS) unübertroffen, die Bernhard Suphan mit Gymnasiums-Lehrer-Kollegen von 1877–1913 in 33 Bänden erarbeitete. 

Andreas Eichler ergänzte in der Petersen-Bibliothek, dass 1955 in Weimar von Heinz Begenau eine kommentierte Ausgabe der ästhetischer Kant-Kritik Herders (Kaligone), in der Herder Kants Reduktion von Schönheit auf subjektives Empfinden kritisierte, und eine kommentierte Ausgabe der philosophischen Kant-Kritik (Metakritik der Kritik der reinen Vernunft) durch Friedrich Bassenge, in der Herder die Kantische Reduktion von Philosophie auf Vernunft als „zu leicht“ befand, erschienen. 1965 folgte in Weimar eine kommentierte Ausgabe von Herders „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ und 1970 eine kommentierte Ausgabe von Herders „Briefen zur Beförderung der Humanität“ durch Heinz Stolpe. 1963 erschien eine Übersetzung der Einführung in das Herdersche Werk des russischen Philosophen Viktor Maximowitsch Schimunski, der Herdes Kant-Kritik folgte, durch Heinz Stolpe. Im Goethe-Schiller-Archiv begannen auch Wilhelm Dobbek in den 1960er Jahren mit dem Großprojekt „Herder-Briefe“. Nach dem Tod Dobbeks im Jahre 1971 führte Günter Arnold die kommentierte Ausgabe in 18 Bänden bis zum Jahre 2017 zum Abschluss. 

Insgesamt entstand im Goethe-Schiller-Archiv ein Bild von Herder als dem eines großen Verteidigers der Philosophie als Weisheit, in der Tradition von Plato, Aristoteles, Maimonides, Meister Eckhart, Spinoza und Leibniz, gegen Kants kurzsichtige Reduktion von Philosophie auf bloß berechnenden Verstand.

Das „Teehäuschen“ im Schlosspark Tiefurt

Eine dritte und letzte Station war das Schlösschen Tiefurt. Im „Teehäuschen“ des Schlossparks traf sich nach 1781 der „Musenkreis“ von Altherzogin Anna Amalia, um gemeinsam Theaterstücke aufzuführen, über gelesene Bücher zu debattieren oder unveröffentlichte Manuskripte vorzulesen. Andreas Eichler verwies hier auf den inneren Zusammenhang des Herderschen Werkes: In der bezeichnenden Sprache unterscheidet sich der Mensch vom Tier. Der Mensch wird nur mit Anlagen geboren und muss sich durch lebenslange Nachahmung und Übung erst zum Menschen bilden. Die Sprache ist es, in der die Menschen sich das Wissen vergangener Generationen, „das Wort der Väter“, aneignen. Die Sprache ist auch das Medium, in dem das Wissen angewendet und die Überlieferung vollendet wird. Die sprachlich-literarische Überlieferung ist für das Individuum, wie auch für die Gesellschaft also konstituitiv. Noch so viel „Blut und Eisen“ hätten 1871, so Eichler, keine deutsche Nationalstaatsgründung bewirkt, wenn sie in Weimar nicht in Sprache und Literatur begründet worden wäre. 

Das „Teehäuschen“ in Freienwalde

In Sachen Anknüpfen an Herder verwies Eichler auf Walther Rathenau, der über seine Großeltern, die noch die Berliner Salons von Bettina von Arnim und Rachel van Ense besuchten, den Weimar-Mythos und auch den Geist der Herderschen Philosophie aufgenommen hatte. Das „Teehäuschen“ im Schlosspark von Freienwalde ist das Symbol dieser Nähe.

Für Herder wie für Rathenau war es selbstverständlich, das Vernunft und Glauben, Analyse und Seelenstärke in Besonnenheit (Sophrosyne) vereinigt werden können. Im Unterschied zu Herders Zeit war für Rathenau jedoch inzwischen sichtbar geworden, dass Industrie und Vernunft eine Verbindung eingegangen und eine „Maschinerie“ hervorgebracht hatten, die das ganze Leben der finanziellen Effizienz unterordnet. Das stürmische Bevölkerungswachstum, so Rathenau in seinem Hauptwerk „Von kommenden Dingen“, macht Effizienz notwendig. Aber der Mensch, das Individuum muss dieser materiellen Gewalt Religiösität und Seelenstärkung entgegensetzen, um von ihr nicht versklavt zu werden. Rathenau nahm den Herderschen Ansatz auf und führte ihn in seiner Zeit weiter.

Die Reisegruppe am Herder-Gedenkstein im Schlosspark Tiefurt

Kommentar

Bereits auf den ersten Blick wird in Weimar deutlich, dass der Mythos an Kraft eingebüßt hat. Der Tourismus beschränkt sich auf „Goethe“, als eine Art „Gesicht“ des Weimar-Mythos. Das wird solange funktionieren, wie Menschen den Namen Goethes noch kennen. Aber in den Buchhandlungen sagte man uns, dass die Schriften der „Klassiker“ heute nicht mehr verlangt, und wir fügen hinzu, geschweige denn gelesen werden. Das ist nicht verwunderlich. Die Zahl der funktionellen Analphabeten in Deutschland steigt. Vor Jahren war es bereits ein Viertel der Achtjährigen, die keinen Mindestwortschatz mehr beherrschen. Streng genommen braucht der zum „Konsumenten“ gemachte Mensch auch keine Wort-Sprache mehr. Es reicht, wenn er Bilder und Symbole „anklicken“ kann. Mächtige globale Wirtschaftsakteure arbeiten mit Hilfe des „Smartphones“ erfolgreich an der „marktkonformen“ Ersetzung der Sprachenvielfalt durch ein simples Englisch, der Ersetzung der Wortsprache durch vereinheitlichte Symbole, der Vereinheitlichung der Körperhaltungen und des Denkens der Konsumenten. Die teure Schulbildung wird man sich wohl unter dem Gesichtspunkt finanzieller Effizienz bald auch noch sparen können. 

Die Sache hat nur einen Haken: Ohne die Vielfalt der bezeichnenden Sprachen, ohne lebenslange Nachahmung und Übung, ohne den Versuch des Menschen über sich hinauszugehen, wird der Mensch wieder zum Tier.

Sollte das das Ziel der westlichen Kultur gewesen sein?

Das hätte man „effizienter“ haben können.

Johannes Eichenthal

Information

Von Johannes Eichenthal erschien im Mironde-Verlag zuletzt:

Literarische Wanderung durch Mitteldeutschland. Sprache und Eigensinn 2. Von Goethe bis Rathenau. 23,0 × 23,0 cm, 320 Seiten, fester Einband, zahlreiche farbige Fotos, Karten und Abbildungen 

VP 29,90 € ISBN 978-3-96063-026-5

Erhältlich in jeder Buchhandlung oder direkt beim Verlag: https://buchversand.mironde.com/p/literarische-wanderung-durch-mitteldeutschland-von-goethe-bis-rathenau-sprache-eigensinn-2-1

Das Buch Johannes Eichenthals wird am 23.5.23 in Zwickau vorgestellt:

Die Litterata – Technik und Poesie in Mitteleuropa – ist ein Feuilleton des Mironde Verlags (www.mironde.com) und des Freundeskreises Gert Hofmann.

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