Essay

DIE ERDE IST DAS GEMEINSAME HAUS

1. Seit 500 Jahren dominieren Europäer die Entwicklung der Welt mit Fortschritt, Kolonialisierung, Industriealisierung, Zentralisierung, Monopolisierung und Vereinheitlichung. Aus der Verbindung von Industrie mit bloß berechnender Vernunft folgte die Unterwerfung des gesamten menschlichen Lebens unter die Forderung nach finanzieller Effizienz, die börsengetriebene Wachstums- und Wegwerfwirtschaft. 20 Prozent der Menschheit beanspruchen heute immer noch 80 Prozent der Ressourcen. Mächtige multinationale Wirtschaftsakteure vereinheitlichen Produkte, Konsumenten und Sprache. In der Folge wird die Diversität in Natur, Kultur und Eigentumsformen zerstört. Damit wird die Resilienzfähigkeit der Menschheitsentwicklung untergraben. Es kommt hinzu, dass die Weltproduktion zu mehr als einem Drittel aus Luxus, Kitsch und Rüstungsschrott besteht. Diese Verschwendung von Arbeit, Energie und Ressourcen konnte sich die Menschheit noch nie leisten, heute schon gar nicht mehr. (Walther Rathenau) Der „Fortschritt“ wurde zur Sackgasse.

2. Die Zukunft der Menschheit ist nur durch eine Umkehr, eine Dekonstruktion der zentralisierten Strukturen möglich. Dezentralisierung, Regionalisierung, Selbstverwaltung und Selbstständigkeit sind die Gebote des 21. Jahrhunderts. Die Welt ist schon heute wieder polyzentrisch und multikulturell geworden. Die Völker Afrikas, Asiens und Lateinamerikas nehmen Schritt für Schritt wieder die Plätze ein, die sie vor dem Jahr 1500 inne hatten. Im Jahre 2050 werden voraussichtlich zehn Milliarden Menschen auf der Erde leben. Die Lebenschancen müssen für alle Menschen tauglich sein: „Alle oder keiner!“ (Gerhard Gundermann) Spaßflüge zum Mond gehören zum Beispiel nicht dazu. Ein mäßiger materieller Wohlstand, der  für alle Menschen möglich sein muss, reicht für ein menschliches Leben aus. (Walther Rathenau)

3. Die Erde ist das gemeinsamen Haus aller Menschen und Kulturen (Franziskus von Assisi). Der „Eigentümer“ lebt nicht auf der Erde. Die notwendige Umkehr im Zusammenwohnen ist weder durch gesetzlichen Zwang noch durch Propaganda (Public Relation) zu erreichen. Ebenso versagen erfundene Schlagworte, wie zum Beispiel „Weltethos“. Statt dessen sollten wir uns an Nikolaus von Kues’ Idee orientieren, der die Konflikte zwischen Kulturen auf dem Boden der Weisheit beilegen wollte. In allen Weltreligionen wurde über die Jahrtausende die menschliche Weisheit befördert. Es geht darum, diese Voraussetzungen neu zu beleben. Das Erbe der Weisheit gebietet es, nicht in die Entwicklung anderer Kulturen einzugreifen. Es geht in einen Wettstreit der Kulturen darum, wer am meisten für eine gemeinsame Zukunft beizutragen hat.

Titel „Literarische Wanderung durch Mitteldeutschland. Sprache und Eigensinn 1. Von den Minnesängern bis Herder“

4. Wie ist die Umkehr möglich? Mit unserer Sprache! Die Sprache ist nicht nur Kommunikationsmittel, sondern auch Zusammenfassung aller Sinneswahrnehmungen und zentrale Handlungssteuerung. Die Sprache ist ein ebensolches Wunder wie die Schöpfung. (Herder) Wir nehmen die Wirklichkeit mit allen Sinnen wahr. Der innere Zusammenhang der Sinneswahrnehmungen wird in der SprachVernunft (Logos) hergestellt. Damit werden Sinneseindrücke bezeichenbar und wieder aufrufbar. Das Wort, so Herder, ist das Wesen unserer Seele (der Gesamtheit von Sinnen, Verstand, Vernunft, Sprache). Die Sprache widerspiegelt nicht nur Wirklichkeit, sondern schafft sie auch: „Nicht die Leier des Amphions hat Städte errichtet, keine Zauberrute hat Wüsten in Gärten verwandelt, die Sprache hat es getan, sie, die große Gesellerin der Menschen.“ (Herder)

Porträts „Literarische Wanderung durch Mitteldeutschland. Sprache und Eigensinn 1. Von den Minnesängern bis Herder“

5. Grundsätzlich steht jeder Mensch vor der Aufgabe, sich das ganze Menschheitserbe anzueignen, um ein menschliches Leben führen zu können. Wir leben in Mitteldeutschland – der Region zwischen Braunschweig und Görlitz. Mitteldeutschland liegt im Schnittpunkt jahrtausendalter transkontinentaler Handelswege. Unser regionales kulturelles Erbe liegt wesentlich in sprachlich-literarischer Form vor. Im Besonderen des mitteldeutschen Erbes finden wir aber gleichzeitig auch allgemeine Züge. Das Allgemeine, die Humanität, existiert nur im Besonderen, nie „rein“. Ohne Heimat, ohne sprachlichen Eigensinn, kann man auch kein Weltbürger sein. Der Weg zum Weltbürgertum ist ein geistiger. Die Kinder lesen die Heimatsagen und finden damit einen Zugang zur Weltliteratur. Mit der Aneignung unserer mitteldeutschen Erbschaft erschließen wir gleichzeitig den Zugang zur Menschheitskultur, zur Humanität. 

Titel „Literarische Wanderung durch Mitteldeutschland. Sprache und Eigensinn 2. Von Goethe bis Rathenau“

6. Der Mironde-Verlag hat dem sprachlich-kulturellen Erbe eine Reihe mit dem Titel „Literarische Wanderungen durch Mitteldeutschland. Sprache und Eigensinn“ gewidmet. Bisher erschienen zwei Bände. Ein abschließender dritter Band soll im Herbst 2024 erscheinen. Der Verlag wählte die Form einer „Wanderung“, weil man die Orte, an denen herausragende Autorinnen und Autoren in der Zeit von 1200 bis 2000 lebten und arbeiteten kennenlernen, erwandern sollte. Vollständigkeit ist nicht nur nicht beabsichtigt, sondern auch nicht möglich. Es geht uns mit der Auswahl darum, die Breite, Vielfalt und Tiefe der sprachlich-erzählerischen Überlieferung begreifbar zu machen. Zudem müssen wir, um Menschen zu sein, auch geistig unterwegs bleiben. Wir dürfen uns nie mit unserem Wissen begnügen (Meister Eckhart), sollten versuchen über uns hinauszugehen (Herder). Ziel ist es, den Leser anzuregen, wieder einmal originale Texte zu lesen, Originalschauplätze in Mitteldeutschland aufzusuchen und vielleicht selbst wichtige Autorinnen und Autoren zu entdecken.

Porträts „Literarische Wanderung durch Mitteldeutschland. Sprache und Eigensinn 2. Von Goethe bis Rathenau“

7. Zwischen dem 11. und 13. Jahrhundert entstand durch Dialektausgleich in Mitteldeutschland die mittelhochdeutsche Sprache. Mit der Sprache wurde ein neues Denken geboren. Nahezu alle Erneuerungsbewegungen der deutschen Geschichte entstanden in der Folge zwischen Braunschweig und Görlitz. Wir wählten Literatinnen und Literaten aus, die sich in der Region auf die Suche nach neuen Antworten auf neue Fragen ihrer Zeit begaben. 

Im Band 1 finden sich Porträts folgender Personen: Heinrich von Veldeke, Wolfram von Eschenbach, Walther von der Vogelweide, Mechthild von Magdeburg, Meister Eckhart, der Frankfurter, Martin Luther, Thomas Müntzer, Valentin Weigel, Wolfgang Ratke, Jakob Böhme, Paul Fleming, Gottfried Wilhelm Leibniz, Ehrenfried Walther von Tschirnhaus, Christian Thomasius, Johann Sebastian Bach, Caroline Neuber, Johann Gottfried Schnabel, Johann Joachim Winckelmann, Christian Gottlob Heyne, Gotthold Ephraim Lessing und Johann Gottfried Herder.

Im Band 2 finden sich Porträts folgender Personen: Johann Wolfgang Goethe, Karl Stülpner, Jean Paul Friedrich Richter, Caroline Schelling, Friedrich de la Motte-Fouqué, Johann Gottlob Heynig, Gotthilf Heinrich Schubert, Bettina von Arnim, Jacob und Wilhelm Grimm, Robert Schumann, Karl May, Friedrich Nietzsche, Wilhelm Ostwald, Clara Zetkin, Franz Boas, Samuel Fischer, Hermann Gunkel, Ricarda Huch und Walther Rathenau.

Titel „Literarische Wanderung durch Mitteldeutschland. Sprache und Eigensinn 3. Von Landauer bis Gundermann“

8. Den Zusammenhang von Überlieferung und Erneuerung wollen wir am Beispiel Walther Rathenaus deutlich machen. Rathenau kannte die gesamte überlieferte Literatur. Er übernahm von seinen Großeltern, die die Salons der Rachel Varnhagen und der Bettina von Arnim besuchten, deren Goethe-Kulturstaatsmythos, das Steinsch-Preußische Reformdenken und die Wertschätzung der Weisheit durch die jüdische Religion. Die hebräische Bibel spielte für ihn immer eine große Rolle: „Die Furcht Gottes ist der Anfang der Weisheit.“ (Salomo)

Rathenau erschloss die Philosophie Meister Eckharts neu und führte die Weisheitskonzeption Herders weiter. Ohne die Philosophie Meister Eckharts ist Rathenau nicht zu verstehen. Meister Eckhart verwies darauf, dass wir die bloß berechnende (menschliche) Vernunft nur übersteigen können, wenn wir einen Zugang zur absoluten, göttlichen, kosmischen Vernunft suchen. Voraussetzung ist Gelassenheit, d.h. das Fallenlassen aller Dinge, die uns am Zugang zur absoluten Wahrheit hindern. Wir müssen wieder so unvoreingenommen werden, wie die Kinder. Eckhart nannte diese Vorurteilslosigkeit „Armut im Geiste“ (im Unterschied zum äußerlichen Armuts-Ideal der Mönchsorden). Herder übersetzte „Armut im Geiste“ mit „Furcht Gottes“ und mit „Demut“. Friedrich Weinreb meinte, dass das hebräische Wort für „Furcht Gottes“ eigentlich „die Schau Gottes“ bedeutet. Hier schließt sich der Kreis. Bei Meister Eckhart ist das „schauende Leben“ eine Metapher für Meditation. Bei Walther Rathenau hat die „schauende Seele“ eine ebensolche Bedeutung. Die Meditation ist der Anfang der Weisheit.

Porträtsl „Literarische Wanderung durch Mitteldeutschland. Sprache und Eigensinn 3. Von Landauer bis Gundermann“

9. Rathenau eignete sich in Weisheit das sprachlich-literarische Erbe an, analysierte die Lage, formulierte in seinem Buch „Von kommenden Dingen“ (1917) ein Reformprogramm und demonstrierte dem individuellen Menschen seine eigene Methode, wie Geist und Seele in Besonnenheit durch Meditation gestärkt werden können, um ein Gegengewicht zur geist- und sinnlosen materiellen Gewalt der finanziellen Effizienzmaschine aufzubauen. 

10. Weisheit ist das „Fundament“ für ein gemeinsames Haus aller Kulturen. Bei der Suche nach Weisheit spielen seit Jahrtausenden echte Bücher eine wichtige Rolle. Diese ermöglichen meditatives Lesen und führen uns zur Meditation hin. Das können digitale Texte nicht leisten. Herders Satz „Das Einzige, was uns die Geschichte von Denkmalen des Geistes überliefert, sind Bücher“ ist ein Credo der Humanität.

Johannes Eichenthal

Information

Andreas Eichler: Literarisch Wanderung durch Mitteldeutschland. Sprache und Eigensinn 1. Von den Minnesängern bis Herder

23,0 × 23,0 cm, 320 Seiten, fester Einband, zahlreiche Abbildungen 

VP 29,90 €  

ISBN 978-3-96063-025-8

Johannes Eichenthal: Literarische Wanderung durch Mitteldeutschland. Sprache und Eigensinn 2. Von Goethe bis Rathenau.

23,0 × 23,0 cm, 320 Seiten, fester Einband, zahlreiche farbige Fotos, Karten und Abbildungen 

VP 29,90 €  

ISBN 978-3-96063-026-5

Johannes Eichenthal: Literarische Wanderung durch Mitteldeutschland. Sprache und Eigensinn 3. Von Landauer bis Gundermann.

23,0 × 23,0 cm, 320 Seiten, fester Einband, zahlreiche farbige Fotos, Karten und Abbildungen 

VP 29,90 €  

ISBN 978-3-96063-024-1

Erscheint Ende April 2024

Die Litterata – Technik und Poesie in Mitteleuropa – ist ein Feuilleton des Mironde Verlags (www.mironde.com) und des Freundeskreises Gert Hofmann.

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