Feature Reportagen

EIN LITERARISCHER WANDERFÜHRER DURCH MITTELDEUTSCHLAND

Am 25. August 2019 stellte der Mironde Verlag in Niederfrohna, aus Anlass des 275. Geburtstages Johann Gottfried Herders (1744–1803), den ersten Band eines literarischen Wanderführers durch Mitteldeutschland, mit dem Titel »Von den Minnesängern bis Herder. Sprache und Eigensinn« vor.

Birgit Eichler begrüßte die Freunde des Verlages, die mit Kritik, Hinweisen und Ergänzungen die Herstellung des Buches unterstützten im Garten des Verlags. Sie verwies darauf, dass einzelne Seiten des Buches im Großformat ausgedruckt und in einer Art Freiluftausstellung zu sehen seien. Der Buchtitel sei unter Verwendung einer Arbeit von Zorek Davidjan gestaltet worden.

Bei Kaffee/Tee und Kuchen, unter anderem die berühmte »Herder-Schnitte« (Sahnequark auf Nussteig), stellte der Autor das Buch vor.

Andreas Eichler hob zunächst hervor, dass er das Buchprojekt 2016 mit seinem Studienfreund Volker Caysa (1957–2017) in Angriff nehmen wollte. Doch eine schwere Krankheit zerstörte die Hoffnung. Das nunmehr fertiggestellte Buch sei eine bleibende Erinnerung an Volkers Tatendrang und Ideenreichtum.
Die weite Auffassung von Literatur sei es gewesen, die Herder in Weiterführung des Lessingschen Ansatzes Ende des 18. Jahrhunderts in die Wissenschaftsentwicklung einbrachte. Auch naturwissenschaftliche und technologische Erkenntnisse würden erst kommunizierbar, wenn sie in eine literarische Form gebracht werden. Im 19. Jahrhundert hätte sich aber der Geist des Spezialistentums durchgesetzt. Heute sei Herder nahezu vergessen. Doch eröffne Herder einen Ausweg aus der herrschenden Überspezialisierung, aus der Sackgasse »Ausdifferenzierung«.
Der Autor hob hervor, dass die weite Auffassung von Literatur die theoretische Grundlage für dieses Buch darstelle.
Schwerpunkt des Bandes sei die Entstehung der mittelhochdeutschen Sprache und damit einer innovativen Denkweise in Mitteldeutschland, die Grundlage zahlreicher Umwälzungen war (Mystik, Reformation, Klassik, Romantik, bis hin zu 1989.)
Der erste Band reicht von den Minnesängern bis Herder. Im Text werden dargestellt: Heinrich von Veldeke, Wolfram von Eschenbach, Walther von der Vogelweide, Mechthild von Magdeburg, Eckhart von Hochheim auf Tambach, der Frankfurter, Martin Luther, Thomas Müntzer, Valentin Weigel, Wolfgang Ratke, Jakob Böhme, Paul Fleming, Gottfried Wilhelm Leibniz, Ehrenfried Walther von Tschirnhaus, Christian Thomasius, Johann Sebastian Bach, Caroline Neuber, Johann Gottfried Schnabel, Johann Joachim Winckelmann, Christian Gottlob Heyne, Gotthold Ephraim Lessing, Johann Gottfried Herder.
Geschichte, so der Autor, ereigne sich immer an konkreten Orten auf konkrete Weise. Er wolle die Leser ermuntern, die Orte aufzusuchen und einen Text zu lesen, der dort entstand.
Die 22 ausgewählten Personen werden mit einer kurzen Biographie dargestellt. Es folgt die Einführung in ein Werk und die Frage, was bleibt? Am Ende schließe ein Lexikonteil mit Kurz-Biographien von Menschen, die mit den 22 Hauptpersonen in Verbindung standen, die Darstellung ab.
Das Buch wurde von Birgit Eichler gestaltet. Zur sachlichen Struktur kommen Fotografien, Abbildungen und Stadtpläne. Die Illustrationen machen etwa 60 Prozent des Buchinhalts aus.

Abschließend versuchte Eichler den Untertitel des Buches Sprache und Eigensinn zu verdeutlichen.

Sprache, so Eichler, sei für Herder mit menschlicher Vernunft verbunden. Eine reine Vernunft könne es nicht geben. Diese SprachVernunft sei keine Eigenschaft des Menschen neben anderen, sondern die Disposition des Menschen. Die Natur-Wirklichkeit eigne sich der Mensch mit allen Sinnen an. Die Zusammenfassung der Sinneswahrnehmungen erfolge in SprachVernunft mit inneren Bildern in unserer Seele. Weil wir die Welt mit unserem ganzen Körper erfassen, deshalb sind die inneren Bilder in der Regel auch körperlich. Der Zusammenhang der Worte und Bilder in unserer Seele ist unser Eigensinn.

Der Mensch müsse sich die Natur-Wirklichkeit in seinen Erfahrungen, in allen Einzelheiten empirisch aneignen. Dem Wesen der Natur-Wirklichkeit, des Universums, komme man aber auf rein empirischem Wege nicht näher. Die Vernunft brauche eine Ergänzung: die Hoffnung, dass unser Leben einen Sinn hat, die Hoffnung, dass wir uns dem Wesen des Universums annähern können.
Herder habe in der Tradition von Weisheit gestanden: die den Gegensatz von Vernunft und Glauben, Skepsis und Hoffnung umfasst.

Die Tradition der Weisheit werde in abstrakt-allgemeinen Erkenntnissen überliefert. Wir leben aber unter konkret-besonderen Bedingungen.
Die Anwendung der allgemeinen Tradition ist deshalb eine eigenständige Leistung. Die einfache Befolgung abstrakter Regeln werde immer enttäuschen. Es bleibe nur die konkret-besondere Anwendung.
Besonnenheit sei die Form der eigensinnigen Anwendung von Weisheit. Den von Platon geprägten Begriff Besonnenheit (Sophrosyne) gebrauchte Herder erstmals in seinem Essay über den Sprachursprung, für die Fähigkeit des Menschen, alle Sinneswahrnehmungen in Sprache zusammenzufassen. In diesem Zusammenhang stellte Besonnenheit mehr die physiologische Seite unserer Fähigkeit der Zusammenfassung von Sinneswahrnehmungen, Vernunft und Sprache heraus.

Doch Besonnenheit sei darüber hinaus auch die Fähigkeit, die Gegensätze Vernunft und Glauben, Skepsis und Hoffnung, Kraft und Tradition, Induktion und Deduktion u.a. zusammenfassen, um Weisheit auf eigenständige Weise anwenden zu können.

Besonnenheit sei also auch die Tugend der Selbstbeherrschung und Selbstbeschränkung
Jeder Mensch werde, so Herder, mit der Besonnenheit seine eigene Philosophie und seinen eigenen Glauben haben können. Besonnenheit sei eine Tugend, die nicht auf irgendeine Belohnung abziele. Das Leben in Besonnenheit selbst sei der »Lohn« des Individuums.
Es gehe darum, dass das Individuum sich seines Eigensinns in der Sprache bewusst werde und diesen in Besonnenheit anwende.

Kommentar
In den letzten Jahren machte ich mich ja mitunter über die Herder-Begeisterung des Litterata-Herausgebers lustig. Sicher kann man auch jede Menge Einwände gegen das gewählte Verfahren und die getroffene Auswahl vorbringen. Auffällig ist allerdings, dass er, anders als viele Verehrer eines großen Denkers, sich nicht auf die Einzelperson beschränkt. Vielmehr versucht Eichler einen Überlieferungszusammenhang und zahlreiche Netzwerke zu erschließen. Die Querverweise auf andere Personen sind sehr interessant. Damit versucht Eichler, in Anlehnung an Herder, die Überlieferung als ein offenes System darzustellen. Bis jetzt herrscht vielfach immer noch die Hegelsche Sicht vor, die auf Biegen und Brechen einen »Fortschrittsprozess« in die Überlieferung hineinkonstruiere, der in der eigenen Position den Gipfel erreicht: »Vorwärts immer, rückwärts nimmer« – ist das Credo der Fortschritts-Gläubigen.
Theodor W. Adorno hatte vor vielen Jahren bereits dagegen eingewendet, dass die Philosophie, die nicht verwirklicht wurde, bis zum Tag ihrer Verwirklichung erhalten bleibe. Das geht in die richtige Richtung, reicht aber nicht aus: Grundsätzlich gehen keine Ideen verloren. Wenn die Zeit kommt, dann greifen wir wieder auf längst überholt geglaubte Ideen zurück, um sie unter neuen Bedingungen anzuwenden.
Insofern vermittelt Eichler eine Ahnung von dem wirklichen historischen Prozess.


Auf Nachfrage fügte Birgit Eichler an, dass der zweite Band von Herder bis zum Ende des 20. Jahrhunderts reichen werde.
Johannes Eichenthal

Information
Andreas Eichler: Von den Minnesängern bis Herder. Sprache und Eigensinn.

Wir wandern, wir wandern …
Literatur hat als Hintergrund immer auch Landschaft und Geschichte. Burgen und Klöster, Wälder und Städte sind der Erlebnisraum mitteldeutscher Literatur. Sprache und Dichtung wachsen aus geschichtlichen Bewegungen und Veränderungen. Aus solchen Vorgängen leben Texte und Bilder dieses Buches. Daraus entsteht keine Literaturgeschichte, aber Geschichten zur Literatur. Andreas Eichler, promovierter Philosoph, entwickelt dabei eine Philosophie der literarischen Begegnung. Birgit Eichler bebildert diesen Weg, diese Wanderung. Denn das ist der Kern dieser Unternehmung: Eine Wanderung durch das Land und seine Geschichte in Eigensinn und Sprache.
Wir wandern, wir wandern. Bilder erleben wir und die Schönheiten der Sprache. Ein Buch für Leser und Liebhaber des Lesens, der Bücher, der Literatur.
(Aus dem Geleitwort von Klaus Walther)

23,0 × 23,0 cm, 340 Seiten, fester Einband, zahlreiche Abbildungen
VP 29,90 €
ISBN 978-3-96063-025-8

Das Buch ist ab 18.9.2019 in jeder Buchhandlung oder direkt beim Verlag erhältlich

Die Litterata – Technik und Poesie in Mitteleuropa – ist ein Feuilleton des Mironde Verlags (www.mironde.com) und des Freundeskreises Gert Hofmann.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert